Der Skorpion von Ipet-Isut
gehen.
„Was ist passiert?“
„Iny ist tot“, antwortete er tonlos.
„Ich weiß. Menkheperre hat es mir erzählt!“
„Ich habe Iny ins Totenreich geschickt. Ich habe ihm den Dolch ins Herz gestoßen. Mit genau diesen Händen…“
Sie war nicht entsetzt, das zu hören. Es war ihr sogar absolut gleichgültig. Einzig und allein Amenemhats Zustand entsetzte sie. Sie wusste, wie er über den jungen Pharao gedacht hatte; nicht nur einmal hatte er mit einem kleinen, verschwörerischen Lächeln geflüstert, dass er den Schwachkopf auf dem Thron von der Lenkung der beiden Länder entheben würde, sobald die Gelegenheit günstig war. Und nun?
„Amenemhat?“
Langsam hob er den Kopf, sah seine Gemahlin an, nein, sah durch sie hindurch in ein düsteres Gefilde jenseits der Welt der Lebendigen.
„Er war mein Sohn. Mein Sohn, Meritamun! Iny war mein Sohn!“ Er schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte. Das letzte Mal hatte er als Knabe geweint, nach einer unvermutet harten Züchtigung durch seinen Lehrmeister. Damals hatte er sich geschworen, nie wieder derart die Kontrolle über sich zu verlieren. Aber jetzt war sein Wille nur noch ein schwaches Schilfrohr, das ganz einfach brach.
Ihn so zu sehen, traf Debora selbst wie ein tödlicher Waffenstoß. „Amenemhat! Du hast so oft erklärt, um Kemet und Waset zu retten dürfe kein Opfer zu groß sein! Erinnere dich! Du hast mir gesagt, wie unfähig Iny ist, und dass er die Länder in den Untergang reißt!“
Er starrte sie an. Wie seltsam, sie mit seiner Stimme, seinen Worten sprechen zu hören...
„... du hast getan, was du tun musstest, um Kemet zu retten!“
„Kemet… ja… Besser ich als Kemet…“ Er verzog die Lippen zu etwas, das nur ein grausiges Abbild eines Lächelns war. „Ich bin verflucht… und jeder Tag, den ich noch hier im Land der Lebenden weile, wird nur dazu dienen, mich daran zu erinnern…“
„Und wenn es so ist, werde ich an deiner Seite sein!“ Debora merkte nicht, dass sie schrie in der verzweifelten Angst, nicht zu ihm durch zu dringen, ihn tatsächlich an die bedrohlichen Mächte der Finsternis zu verlieren. „Hörst du? Und ich gebe dich nicht auf! Ich liebe dich! Ich liebe dich! Und nichts auf der Welt wird das ändern! Nichts!“
„Du weißt nicht, wer ich wirklich bin. Du liebst nur ein… Trugbild!“ Mit einem Mal stürzte alles auf ihn ein, und er war nicht fähig, ihm länger Einhalt zu gebieten. ER wollte ihr die Wahrheit ins Gesicht schleudern, sie zwingen zu gehen. „Ich habe meinen Amtsvorgänger ins Totenreich geschickt und einige andere mehr, die mir im Weg standen! Ich habe sie vergiften lassen, erdrosseln... je nach dem... Ich habe auch versucht, Kahotep ermorden zu lassen… Es ist nur… missglückt, was ich sehr bedauert habe!“ Sie musste gehen! Er konnte ihre Anwesenheit nicht länger ertragen. Er hatte das Gefühl, die Finsternis, die sich in ihm eingenistet hatte, greife aus und taste nach ihr.
„Geh und lass mich allein!“
„Du hast Kemet gerettet, Amenemhat!“ wiederholte sie stur. „Und Waset!“
„Mein, Sohn, Meritamun! Mein eigener Sohn...“
„Denk an unseren Sohn, Amenemhat!“ Sie zog seine Hände zu sich, bis sie ihren Bauch berührten. „An UNSEREN! Denke an die Nacht, in der du mir versprochen hast, die Götter würden uns einen Sohn schenken!“
„Die Götter... die Götter werden einem Frevler wie mir niemals diese Gnade gewähren!“
„Sie haben es schon getan! Amenemhat! Hörst du mich?“
Es dauerte einen langen schrecklichen Augenblick, bis das Leben in seine Augen zurück kehrte und er den Kopf hob. „Was… hast du gesagt?“
Sie schlang erneut die Arme um ihn, als müsse sie ihn ganz leiblich gegen Feinde verteidigen. „Ich erwarte ein Kind! Den Sohn, den du uns versprochen hast!“
Er drückte sie an sich und hielt sich an ihr fest. In diesem Augenblick wusste er mit aller Klarheit, warum er Debora liebte, und dass diese Liebe ihm mehr bedeutete als alles andere. Mehr als Waset, mehr als der Thron. Debora war der Anker, der ihn vor dem Sturz in den Abgrund bewahrte, das Licht, das ihm den Weg zurück wies aus den Nebeln des Totenreiches. Amun hatte ihm seine Gnade nicht mit seinem Sieg über die Libyer erwiesen! Nicht mit den königlichen Ehren, die ihm mit einem Mal ganz gleichgültig waren. Nein, das Geschenk seines Gottes, aller Götter Kemets an ihn, war die Frau in seinen Armen.
Kapitel 22
Nefertari stand auf dem Balkon ihres Gemachs
Weitere Kostenlose Bücher