Der Skorpion von Ipet-Isut
später keuchende Atemzüge zu hören waren, blieb sie stehen. Kehrte das Heer zurück? Oder rannte noch ein Deserteur um sein Leben?
Dann sah sie den Mann, der ihr entgegen kam. Er trug ein Kriegergewand und einen Speer mit einer Standarte in der Hand. Schon das sprach gegen die Vermutung, es mit einem Flüchtigen zu tun zu haben. Vor allem aber sein Gesichtsausdruck, der nichts von der gehetzten Panik zeigte, die Debora bei Khenti gesehen hatte! Der Mann lachte sogar.
„Die Götter haben uns den Sieg verliehen!“ rief er, sobald er die junge Frau erblickt hatte. „Er hat die Libyer in den Staub getreten und uns den Sieg geschenkt!“
Debora fühlte neue Kraft in sich. „Was ist mit dem Erhabenen Amenemhat? Ist er am Leben?“
„Amun-Ra hat seinen Auserwählten beschirmt und ihm Kraft verliehen! Ich habe gesehen, wie er eine ganze Reihe Feinde eigenhändig niedergestreckt hat!“ Unterdessen stand der Bote neben ihr und sie roch seinen Schweiß ebenso, wie sie das Funkeln in seinen Augen erkennen konnte. Das, was er erlebt hatte, war offenbar mächtig genug, ihn trotz seiner Erschöpfung zum Lauf anzutreiben, um die Nachricht vom Sieg weiter zu tragen. „Heil und Leben in Ewigkeit dem Sohn Amun-Ras", schloss er, kurz seine Standarte in den Himmel reckend. „Heil und Leben dem neuen Pharao!“
Bevor Debora eine weitere Frage an ihn richten konnte, hatte er sich wieder in Bewegung gesetzt und war hinter einem Felsvorsprung verschwunden.
„Dem neuen Pharao...“ wiederholte sie leise. Dann ließ sie ihr Reittier ganz einfach stehen und rannte weiter.
Wenig später hatte sie die Schlucht hinter sich gelassen und stand auf einem sich in die westliche Wüste öffnenden Plateau. Und dort, an dessen Rand, gewahrte sie Amenemhat. Er kniete mit dem Rücken zu ihr, den Kopf hinab auf das Schlachtfeld gewandt.
Sie hatte keinen Zweifel, dass er es war, auch wenn er ihr den Rücken zuwandte und nicht auf ihre Rufe reagierte. Sie mobilisierte ihre letzten Kräfte, um schneller zu laufen. Der süßliche Todesgestank des Schlachtfeldes hatte Debora schon erreicht, noch ehe sie die Schlucht hinter sich gebracht hatte. Nun lag er in der Nachmittagssonne, wie ein unsichtbares Leichentuch über die Landschaft gebreitet. Scharen von Aasvögeln ließen sich in der Wüste nieder...
Die junge Frau stolperte erschöpft näher. Warum hörte Amenemhat sie nicht? Das lose Ende seiner einstmals weißen Schärpe flatterte träge im Wind. Jetzt sah sie auch die Wunden, die seine Arme bedeckten; nein, seinen ganzen Körper überall dort, wo sie ihn sehen konnte. Schnitte, Abschürfungen und die dunklen Flecken, die heftige Schläge hinterließen. Entsetzt blieb Debora nur ein paar Schritte hinter ihm stehen. Ihr Herz krampfte sich zusammen.
„Amenemhat...“ flüsterte sie. Im nächsten Moment kniete sie neben ihm, schlang die Arme um ihn. Aber als er sie anblickte, kehrte die Beklemmung zurück, die sie während des gesamten Weges begleitet hatte. Die sonst so gefangen nehmende Kraft, die machtvolle Aura, war aus seinen Augen verschwunden. Stattdessen sah Debora nur Verzweiflung. Es machte ihr mehr Angst als alles andere um sie.
„Amenemhat... was...“
„Bist du das Lockbild eines Totengeistes?“
„Nein, ich bin hier! Du kannst mich doch fühlen! Ich bin dir nach geritten, über die Berge!“ Sie legte die Hände um sein Gesicht. „Ich hatte solche Angst um dich! Was ist passiert?“
Er wusste nicht, was er antworten sollte in diesem Augenblick. So viel war passiert – zu viel um es überhaupt in ein paar magere Worte zu kleiden und ihr zu sagen. Er spürte den zitternden Körper seiner Geliebten in den Armen und konnte es doch nicht über sich bringen, sie noch einen Moment länger zu halten.
„Du solltest nicht hier sein, an diesem Ort des Todes!“
„Mein Platz ist an deiner Seite! Wo sonst! Ich bin deine Gemahlin!“
Er schob sie zurück. „Das war ein Fehler. Ich hätte dich nie an mich binden dürfen… Niemals…“
„Amenemhat, was redest du?!“
„Fass mich nicht an, Meritamun! Bleib fern von mir! Ich bin verdammt und verflucht! Alles, was ich dir geben kann, ist der Tod. Geh fort!!!“
Sie war ein Stück zurück gewichen, als er die letzten Worte schrie, aber nicht weiter.
„Geh zurück“, wiederholte er leise; für mehr fehlte ihm ganz einfach die Kraft. Als Debora seine Hände griff, konnte er nicht einmal mehr Widerstand leisten, auch wenn er so sehr wünschte, sie würde
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