Camorrista
I
A ls ich klein war, nannten sie mich das elektrische Mädchen.
Wenn sie uns ins Bett brachten, knipste mein Bruder Diego das Licht aus und wollte, dass ich »Glühwürmchen« machte. Jeder synthetische Pullover knisterte und sprühte Funken, sobald ich ihn über den Kopf zog.
Das gefiel ihm wahnsinnig, kam ihm vor wie Zauberei. Mir gefiel es ein bisschen weniger, wenn ich an der Autotür, am Toaster oder an der Antenne des tragbaren Fernsehers einen Schlag bekam. Diego schloss daraus, ich hätte Superkräfte, und so bat er mich eines Tages, die kleinen Batterien des Walkmans, den er zu Weihnachten bekommen hatte, die ganze Nacht lang fest in meiner Hand zu halten.
Am nächsten Morgen funktionierte sein Walkman wieder. Dann stimmte es also, ich hatte Superkräfte. Ich glaubte daran, ohne mich groß zu wundern. Es erschien mir durchaus wahrscheinlich, dass es Menschen mit Superkräften geben konnte.
Meine Superkräfte mussten ein Geheimnis zwischen Diego und mir bleiben, doch an dem Tag, als ich zum ersten Mal meine Zahnspange trug, musste ich erleben, wie meine Beliebtheit in der Klasse massiv einbrach, und da erzählte ich den anderen davon. Ich prahlte geradezu mit meinen Superkräften, und eine Klassenkameradin gab mir die dicken Batterien einer dieser Puppen, die weinen können, zum Aufladen.
Da es ja größere Batterien waren, verkündete ich mit Kennermiene,
dass ich mindestens zwei Nächte brauchen würde. Voller Angst, mein Bruder könnte etwas merken, umklammerte ich die Batterien drei Nächte lang, die letzte davon schlaflos. Doch diese dumme Puppe wollte einfach nicht weinen.
Ich wurde zum Gespött der Klasse. Als ich meinem Bruder alles gestand, war sein Urteil eindeutig: Wer seine Superkräfte offenbart, verliert sie für immer.
Einen Monat danach erklärte mir mein Vater, dass Diego immer die Batterien ausgetauscht hatte, während ich schlief. Und was aufladbare Batterien anging, so würden sie eines Tages überall verbreitet sein, und das wäre dann für die Natur viel besser. Die Natur war mir schnurz, und ich fühlte mich ganz schlecht, hauptsächlich weil niemand Superkräfte hatte.
Ich fragte ein paar Mal bei meinem Vater nach.
»Nein, niemand«, sagte er jedes Mal.
»Du auch nicht, Papa?«
»Aber nein.«
Plötzlich hatte ich das Gefühl, in einer todtraurigen Welt zu leben.
Ein Therapiezentrum ist auch kein besonders fröhlicher Ort.
Aber das hier befindet sich in einer Benediktinerabtei (was will man mehr). Sie heißt Spaccavento, und ich habe sie immer aus der Ferne gesehen. Ich muss sagen, sie hat schon ihre Wirkung, wenn man sich ihr auf dem alten Weg voller Teerkrusten nähert (die vielen Schlaglöcher haben allerdings auch ihre Wirkung auf meine beginnende Blasenentzündung).
Nach der (hoffentlich) letzten Kurve ragt die Einfriedungsmauer vor mir auf, hoch und senkrecht wie ein mit Kletterpflanzen überzogener Deich.
Ich stelle den Motor ab und stütze mich aufs Lenkrad. Der Glockenturm der Kirche, eckig und aus grobem Stein gemauert, erhebt sich über den dunklen Spitzen der Zypressen. Ich hole ein Erfrischungstuch aus der Handtasche, kontrolliere
im Rückspiegel mein Aussehen und beschließe, den Lippenstift aufzufrischen (nicht zu wenig, aber auch nicht übertrieben viel).
Ich mache die Wagentür auf. Wenn Gott existiert, wird er sicher wissen, wie sehr ich jetzt, im Alter von dreißig Jahren, eine dieser Superkräfte brauchen könnte. Irgendeine, er kann sich eine aussuchen, egal welche.
Doch das einzig Elektrische, das ich spüre, ist ein Kribbeln im Knie. Ansonsten ist auch das Handy auf null. Kein Saft und kein Netz.
Hier drinnen sind überall Skelette.
Ich bin von langen Knochen umgeben. Von krummen alten Knochen.
Die auf der anderen Seite des Tischs mustern mich eingehend. Sie sind zu dritt.
»Daniele Mastronero, genannt Cocíss «, beginnt der Typ in der Mitte, der im blauen Anzug. »Ja, wie der Apachenhäuptling. Man nennt ihn wohl deswegen so, weil er zwei gleiche Narben unter den Augen hat. Wie die Kriegsbemalung der Indianer. Unser Mann war der Gebietsverantwortliche für den Block K, den nördlichen Bereich des Viertels 167, zwei Drogenumschlagplätze, ein Dutzend Soldaten, dazu die Dealer, die Schmieresteher und die Wachtposten. Heroin, Kokain, Crack und Fläschchen zu erschwinglichen Preisen. Sieht so aus, als hätte er seit ein paar Monaten direkt mit den Lieferanten verhandelt.«
Der Typ im blauen Anzug hat beinahe weißes Haar und
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