Der Sohn (German Edition)
und der Polizei hat sie nichts sagen wollen.
»Dann sind uns die Hände gebunden«, haben sie bei der Polizei geseufzt.
Tess hat einen eisernen Willen. Viele Male hat man auf sie eingeredet, aber es hat nichts gebracht.
Ich habe einen blendenden und dabei völlig auf der Hand liegenden Einfall. Tess’ Laptop steht auf dem Tisch (übrigens der einzige Computer, der in unserem Haus nicht gestohlen wurde, wohl weil er so klein ist): Sie ist praktisch ständig auf Facebook. Es ist zwar nicht sehr wahrscheinlich, dass sie dort etwas erzählt (der ganzen Welt), aber man kann nie wissen, manchmal ist es leichter, der ganzen Welt etwas anzuvertrauen als der eigenen Mutter oder einer sympathischen Polizistin, mit der man allein im Zimmer ist.
Tess’ ganze Generation teilt sich bevorzugt der anonymen Öffentlichkeit mit, der Welt, und dem Auditorium, das unter »Freunde« firmiert – manchmal Hunderte. Das ist für sie vom Gefühl her kaum anders, als würden sie Tagebuch schreiben, glaube ich. Sogar ich darf mich auf dieser Ebene zu ihren Freunden zählen, was unserer Beziehung eine kuriose Modernität verleiht. Im Prinzip könnte Tess hier, in der Wärme und Geborgenheit von Facebook, dem allerunprivatesten Privaten, ihre unaussprechlichen Erfahrungen preisgegeben haben. Und seien es nur Andeutungen, Stichworte, hier wird schließlich alles leichter geäußert als im mündlichen Umgang mit denen, die zu nah sind.
Tess’ jüngste Facebookseiten sind das reinste Fotospektakel (rund zweihundert Selbstporträts, die sie mit ihrem langen rechten Arm geschossen hat) nebst anderweitiger Versuche der Selbstdefinition und der Imagebildung: Auflistungen der Dinge, die sie mag und die sie nicht mag, beziehungsweise wovon sie »ein Fan ist«.
Ein Fest der Nichtigkeiten ist das auf Facebook. Es lebe die Nichtigkeit, denke ich.
Bei Tess steht:
RECENT ACTIVITY
TESS became a fan of I’d be scared if a 400 lb glass of koolaid came bursting into my house…
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TESS became a fan of When I have a Sharpie, I have the urge to draw on everything.
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TESS commented on Lily’s photo.
TESS commented on Annie’s photo.
TESS became a fan of Hanging with old friends and saying remember when….
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TESS became a fan of don’t you hate it when your parents start to sing in public!
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Mein Vater ist außer Lebensgefahr, HURRAAA!! Ich vermisse ihn soooo sehr. Noch zwei Wochen, dann sehe ich meinen personal marine!!!!! Lily: BFF, love you!
Tja, das wär’s. Damit müssen wir uns begnügen.
Auch unter dem, was sie an den vorangegangenen Tagen geschrieben hat, findet sich kaum etwas, was Bezug auf die schrecklichen Erlebnisse nimmt. Direkt danach Stille, kein Kommentar, nur viele eingegangene Nachrichten.
Und nach drei Tagen dann von Tess’ Seite überschwengliche Dankesbekundungen an alle Freunde (U R the best!), die wohl die Nachrichten verfolgt und Tess auf allerlei hippe, aber lieb gemeinte Weise ihre Anteilnahme bekundet haben. Doch Tess hat sich nirgendwo zu einem persönlichen Bericht ihrer Erfahrungen verleiten lassen – oder sie hat das auf den Austausch im Privatbereich beschränkt, den Facebook auch bietet.
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Allein schon beim Eintippen seines Namens, Ton Raaijmakers, verkrampfen sich meine Finger – als müsste ich etwas furchtbar Schmutziges anfassen, mit dem ich mich besudeln könnte. Gleichzeitig merke ich aber auch, dass mir der Umgang mit seinem Namen eine gewisse Macht verleiht. Er ist tatsächlich Facebook angeschlossen, erstaunlich. Kein Foto, zum Glück. Das wäre mir jetzt zu viel gewesen.
Es sieht ziemlich ausgestorben aus auf Tons Seite. Zwei Freunde hat er, mit Fotos, wie er ungefähr Ende fünfzig, joviale Typen.
Theo ’t Hoff und Geert van Drongen. Ich recherchiere, dass beide einer jener bekannten Networksites angeschlossen sind, auf denen erwachsene Leute unter dem Deckmantel des sinnvollen Gedankenaustauschs mit ihren Kontakten angeben und sich gegenseitig darin übertrumpfen, wer die meisten und wichtigsten »Relations« hat. ’t Hoff hat fünfzehn »Relations«, van Drongen zweiundvierzig. Raaijmakers selbst ist kein Networker (wundert mich nicht). Weiter finde ich heraus, dass ’t Hoff im Stadtarchiv von Amersfoort arbeitet und van Drongen an einer Schule in Zeist Sozialkunde unterrichtet. Beide sind Anfang der fünfziger Jahre in
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