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Der Sohn (German Edition)

Der Sohn (German Edition)

Titel: Der Sohn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Durlacher
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letzten Mal. Meine Mutter hat den anderen Tisch ein wenig umgestellt, damit die Leere ausgefüllt wird, aber das macht es nicht besser. Es ist nicht mehr das Zimmer meines Vaters. Trotz der überquellenden Bücherregale und der Aktenschränke voller Mappen, Ordner, Hängesysteme, Karteikästen, Tonbänder, Filme.
    In einem der Schränke klafft eine Lücke, in die ein dicker Ordner passen würde, und da sehe ich erst, dass er auf dem Tisch liegt: ein Ordner, beschriftet mit Ausbau. Den hat sich Tess offenbar angeschaut. Ich werfe einen flüchtigen Blick hinein. Diese ganze Sache meines Vaters, all diese Briefe, das hätte mich früher mitgenommen, aber jetzt nicht mehr.
    Es sind auch Fotos darin, schon auf der ersten Seite, vom alten Wohnzimmer, als es den Wintergarten noch nicht gab. Es hat früher eigentlich komisch ausgesehen, ärmlich.
    Mein Vater hat hier die gesamte Korrespondenz mit dem Bauunternehmer abgeheftet. Bauleiter: Ton Raaijmakers. Jetzt blättere ich doch den ganzen Ordner durch. Typisch mein Vater, die Angelegenheit so gründlich anzugehen. Und zu gewinnen.
    Ich setze mich auf den alten Schreibtischstuhl und rolle ein bisschen vor und zurück, suche nach weiteren Fotos.
    »Kommst du, Saar?«, höre ich von unten. Meine Mutter. Das scheint so etwas wie ein Reflex zu sein. Sowie sie jemanden in diesem Zimmer hört, muss sie einschreiten. Ich kann mich mit einem Mal voll und ganz in meinen Vater hineinversetzen, der sich hin und wieder hierher flüchtete. Ich versuche, sie zu ignorieren.
    Als sie mich noch einmal ruft, kreische ich zurück: »Könntest du das bitte lassen, Mama! Ich möchte etwas schreiben. Ich komme gleich, verdammt!«
    Ich bebe vor Zorn.
    Im Zimmer meines Vaters schreibe ich nun den Brief an Mitch, vor dem ich mich so gedrückt habe. Auf Papier, nicht als Mail, denn Mitch bekommt während des Boot Camps nicht die Gelegenheit, online zu gehen.
Lieber Mitch,
wir freuen uns riesig auf Deine Graduation. Hältst Du bis dahin durch? Mitch, halt Dich fest. Ich habe diesmal keine erfreulichen Neuigkeiten. Papa muss operiert werden. Gallensteine. Die machen ihm furchtbar zu schaffen. Die Operation ist in zwei Wochen, es geht nicht anders, denn sonst müsste er bestimmt vier weitere Monate warten. Aber er geht ein vor Schmerzen, und ihm bleibt keine Wahl. Das heißt, lieber Mitch, dass er bei Deiner Graduation nicht dabei sein kann. Ich finde auch, dass das großer Mist ist, aber Tess und ich kommen auf jeden Fall! Papa wollte die Operation zuerst gar nicht – er wird Dir deswegen auch noch schreiben –, aber mit diesen Schmerzen ist er zu nichts mehr fähig. Wenn er eine Kolik hat, kann er kaum noch kriechen. Geschweige denn, dass er irgendwohin fliegen könnte.
Tante Jetta wird sich um ihn kümmern, und Oma wird ihn auch oft besuchen. Tess und ich kommen zu Dir, egal was passiert.
Halt die Ohren steif, Liebling, ich bin schrecklich stolz auf Dich!
Mama
    Meine Lügen machen mich krank. Aber was sollte ich sonst tun? Ich muss meinen Sohn darauf vorbereiten, dass sein Vater, sein größter Fan, nicht bei seiner Abschlussfeier dabei sein wird. Wenn ich ihm aber den wahren Grund dafür verrate, kann er vielleicht nicht mehr weitermachen. So würde es mir zumindest gehen. Er wird dann womöglich sofort kommen wollen, und was hätte das für einen Sinn? Da wäre die ganze Schinderei umsonst gewesen. Und überhaupt, vielleicht ginge es ja auch gar nicht.
    Ich habe einem Ex- Marine, den ich übers Internet kennengelernt habe, unsere Situation nach dem Überfall geschildert. Er riet mir, Mitch das Boot Camp unbedingt zu Ende bringen zu lassen. Er könne zwar nach Hause kommen, wenn es wirklich nötig sei, aber dazu müssten er und ich einen Antrag beim Roten Kreuz stellen, und er müsse jede Menge Papiere unterzeichnen, bevor man ihn ausreisen ließe. Um sicherzustellen, dass er nicht womöglich desertiere. Eine äußerst umständliche und zeitraubende Prozedur. Und wenn er wieder zurück sei, müsse er in eine andere Einheit mit neuen Leuten, sich erneut anpassen und sich schinden. Seine Graduation würde sich hinziehen. Natürlich möchte ich Mitch herholen, möchte, dass er die Army verlässt und nach Hause kommt, am liebsten für immer. Aber es wäre zu egoistisch, ihn darum zu bitten. Er hat dort drüben übermenschliche Anstrengungen auf sich genommen.
    Ich stecke den Brief in ein Kuvert, das ich im Schrank meines Vaters finde, und klebe es zu. Morgen werde ich ihn mit FedEx nach Camp

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