Der Sohn (German Edition)
dachtest du denn! Dass das nur eine spannende kleine Episode war? Ja, wir haben uns gewehrt, und sie haben uns die Hände gefesselt und auf uns geschossen! Natürlich hat auch Tess sich gewehrt! Wir hätten alle tot sein können! Und was sie mit ihr gemacht haben, weiß ich noch nicht mal!«
Ich bin atemlos vor Wut. Tara schlingt erschrocken die Arme um mich. Es ist lange her, dass Tara und ich uns so in den Armen gelegen sind.
Und da denke ich an Tess, die oben sitzt, allein mit ihrem Computer. Diese ganze Zärtlichkeit macht mich plötzlich rasend. Ich darf nicht weinen, ich sollte knurren, ich sollte böse sein. Wenn ich weine, verrate ich Tess. Weinen bedeutet, dass man dem nachtrauert, was kaputt und weg ist, weinen bedeutet Kapitulation, Jämmerlichkeit, und das gönne ich ihnen nicht, diesen Schweinen. Wir sind noch da. Ich löse mich mit einer energischen Bewegung aus Taras Umarmung. Ich will böse sein.
Trotz allem auch auf Tara, die geradezu high zu sein scheint von ihrer Rolle als Seelentrösterin und jedes Mal den Kopf schüttelt, wenn wir auf unser Desaster zu sprechen kommen. Das wir uns ja wohl auch irgendwie selbst zuzuschreiben haben, wir mit unserem schönen Haus, unseren Autos, Hochmut kommt eben vor dem Fall. Oder sie versucht uns abzulenken. Wir müssten das alles so schnell wie möglich abstreifen, denn »es hat keinen Sinn, sich zu lange damit zu beschäftigen«. Ja, ja, ja. Klingt ein bisschen arg bequem – vor allem für Menschen, die nicht wissen, wovon sie reden.
Iezebel sieht mich fragend an. Tara sieht hilflos aus.
»Sie hat mich befreit! Sie ist vor uns aus dem Bett geholt worden«, sage ich.
Der zerrissene Pyjama. Gekämpft. Ja, natürlich hat sie sich gewehrt. Sie hat ja schließlich den braunen Gürtel in Karate, kein Wunder!
92
Über unseren Köpfen höre ich Tess poltern, höre das altvertraute Geräusch des rollenden Schreibtischstuhls im Zimmer meines Vaters. Offenbar hockt sie nicht mehr an ihrem Computer. Mich überläuft eine Gänsehaut.
»Tess?«, rufe ich nach oben.
Tess ruft zurück: »Ja?«
»Was treibst du denn da oben in Opas Zimmer? Setz dich doch mal kurz zu uns!«
»Nein!«, ruft sie zurück. »Lass mich. Was ist denn?«
Wir hören sie aber doch herunterkommen, langsam. Sie streckt den Kopf zur Tür herein, das Gesicht leichenblass und ungeduldig, nur noch ein Schatten des früheren Clowns. Tara winkt ihr zu, als stünde sie auf der anderen Straßenseite.
»He, Tessje, möchtest du ein Tässchen Tee?«, fragt Tara laut und allzu entspannt.
»Vielleicht. Weiß nicht. Nein. Was ist?«
»Nichts ist. Wir wollten dich nur mal eben sehen. Okay?«
Sie schüttelt den Kopf. Dieses Gesicht, so klein und schmal. Sie geht wieder nach oben.
»Jetzt sitzt sie also wieder in Hermans Zimmer!«, sagt meine Mutter. »Was treibt sie denn dort? Sollte nicht eine von uns mal nachsehen?«
»Was soll denn das heißen? Du tust ja gerade so, als sei es verboten, dass sie sich dort aufhält«, sage ich irritiert.
Aber ich gehe schon hinauf. Noch bevor ich anklopfen kann, öffnet sich die Tür, und Tess steht urplötzlich vor mir. Ich pralle zurück. Sie ist genauso erschrocken, glaube ich, reißt die Augen weit auf – oder ist das nur Feindseligkeit?
Mein Herz klopft wie wild.
»Entschuldige, Schatz, hab ich dich erschreckt?«, sage ich.
Ich versuche, sie an mich zu ziehen und in die Arme zu schließen. Sie schiebt mich weg, und das mit Wucht. Ich muss an Linda Blair denken, in Der Exorzist . An Dibbuks, ruhelose Totengeister, die in die Körper von Lebenden eintreten. Ist mein Kind von einem Dibbuk besessen? Dann kennt mich dieser Dibbuk jedenfalls nicht und findet die Umarmung sehr unangenehm.
»Darf ich in Omas Bett fernsehen?«, fragt Tess dann.
»Klar«, sage ich möglichst lässig.
Ich spüre, dass ich zittre. Und dass sie zittert.
93
Tess legt sich in voller Montur ins Bett meiner Mutter. Ich husche auf Zehenspitzen hinaus. Natürlich kann ich es nicht lassen, mich kurz im Zimmer meines Vaters umzusehen, obwohl ich weiß, dass mir das nicht guttut. Was bedeutet dieser alte Kummer noch unter den gegenwärtigen Umständen? Das will ich wissen, fühlen. Einen Moment lang macht mich der bekannte Geruch glücklich, der Geruch ist noch derselbe.
Einen Moment lang ist alles gut. Dann sehe ich, dass sich das Zimmer erneut verändert hat. Jetzt, da der Schreibtisch weg ist, wirkt es zwar leerer, aber seltsamerweise auch noch ein bisschen kleiner als beim
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