Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
ohne eine einzige Wolke. Nichts ließ auf Krankheit, angegriffene Gesundheit oder Hinfälligkeit schließen. Die Hitze lud dazu ein, sich unter einer Zitronatzitrone in die Hängematte zu legen und auf einen Windhauch zu warten, der die Blätter rascheln lässt und einen an den Fußsohlen kitzelt.
Ich ließ das Rad vor unserem Tor fallen, ohne den Ständer auszuklappen, und betrat das Haus. Meine Mutter beugte sich gerade über eine Reisetasche, zwei waren bereits gepackt, und in einer davon erkannte ich meine Sachen. Mein Vater saß blass im Sessel, er hatte die Hände in den Schoß gelegt und sah ihr dabei zu.
»Wohin fahren wir?«
»Nach Genua, wegen Papà.« Meine Mutter versuchte, zwei Paar Sandalen in einer Plastiktüte zu verstauen. »Dort gibt es eine Spezialklinik. Heute Morgen kam der Anruf, und wir müssen sofort los.«
Ich hatte noch keinen Sommer nicht in Capo Galilea verbracht.
Capo Galilea war der Inbegriff von Sommer: Meer. Strand. Touristen, die außer Badesachen und Büchern auch Neuigkeiten und Offenbarungen mitbrachten. Lange Nächte. Freunde aus dem Norden, die hier ihre Ferien verbrachten, wodurch uns jedes Mal bewusst wurde, dass wir wieder ein Jahr älter geworden waren. Im Sommer öffneten in Capo Galilea drei Strandlokale, die ansonsten geschlossen waren. Der Ort machte eine Verwandlung durch, die tausendmal aufregender war als jede Reise.
Doch ich brauchte nur einen kurzen Blick auf meinen Vater zu werfen.
»Ich hole schnell ein paar Comics«, rief ich.
»Papier, Stifte und deine sonstigen Zeichensachen habe ich schon eingepackt«, sagte meine Mutter. »Außerdem Schulbücher, das Englischlexikon und dein Tagebuch.« Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht und seufzte. »Hoffentlich habe ich nichts vergessen.« Zum ersten Mal fiel ihr Blick auf mich, und ihre grünen Augen verloren sich in den meinen, die dunkel sind wie die meines Vaters. »Schau dich gründlich um! Haben wir etwas Wichtiges vergessen?«
Ich wollte gerade die Treppe hochgehen.
»Zeno.«
Sie kam auf mich zu, stieg vorsichtig über die Taschen, als liefe sie über glühende Kohlen. Sie schloss mich in die Arme, und ich ließ mich an ihre Brust sinken mit dem Wunsch, diese Umarmung möge niemals enden.
Wie ich heute weiß, liegen 1492 Kilometer Schnellstraße zwischen Capo Galilea und Genua. Ich erwähne das nur, weil ich mich noch an jeden dieser 1492 Kilometer erinnern kann. Ich weiß noch genau, wie oft wir angehalten haben, weil mein Vater sich übergeben musste, nämlich dreizehnmal, einmal sogar auf der Notspur eines Autobahnkreuzes, auf der man eigentlich gar nicht halten darf. Ich weiß noch, welche Lieder wir gesungen haben, um uns die Zeit zu vertreiben: La leva calcistica , ein Lied aus dem Film Marrakech Express , dem Lieblingsfilm meiner Eltern. L’anno che verrà, aus demselben Grund . Io no und Una canzone per te von Vasco Rossi, weil Michele und Salvo mir die CD zum Geburtstag geschenkt hatten. Ich erwähne das auch, weil 1492 das Jahr ist, in dem Amerika entdeckt wurde, und Christoph Kolumbus stammt schließlich aus Genua. Und wie sich herausstellte, sollten auch wir angesichts des Gesundheitszustands meines Vaters, des Problems meiner Unterbringung und der unglaublichen Hitze in diesem Sommer so manche Entdeckung machen und so manchen Sieg erringen.
In der Klinik, in der mein Vater erwartet wurde, hatte man nämlich nicht mitbekommen, dass es mich auch noch gab.
»Soll das ein Witz sein? Ich habe mehrmals gesagt, dass mein Sohn auch mitkommt. Er ist zwölf Jahre alt!«, schrie meine Mutter, dass es durch den ganzen Flur hallte. »Und was soll ich jetzt Ihrer Meinung nach tun? Soll ich ihn in einem Hotel unterbringen, ihm ein Zelt kaufen, ihn allein nach Hause zurückschicken?«
»Es tut uns leid, Signora …«
»Das kann ich mir vorstellen!«
»Gibt es denn niemanden, der ihn aufnehmen kann?«
» Sie können ihn aufnehmen. Mich und ihn.«
»Signora, das geht nicht. Kinder sind hier nicht erlaubt.«
»Aber ich habe ausdrücklich gesagt, dass mein Sohn dabei ist. Von irgendwelchen Altersbeschränkungen war nie die Rede. Ich möchte mit Ihrem Vorgesetzten sprechen.«
»Ich bin der Vorgesetzte.«
»Dann will ich eben mit einem anderen Vorgesetzten sprechen. Mit einem, der Ihnen vorgesetzt ist.«
Es war aussichtslos, ich konnte dort einfach nicht bleiben. Es stand zwar ein Zimmer für eine Begleitperson zur Verfügung, aber Hunde, Pflanzen und Kinder waren verboten. Während man meinen
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