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Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)

Titel: Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Geda
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Vater auszog, abtastete und an seinen ersten Tropf anschloss, zogen wir uns auf die Terrasse einer einladenden Pasticceria zurück, die vom schirmförmigen Baldachin zweier Kiefern überschattet wurde. Zwischen den Häusern blitzte das Meer hervor. Außerhalb des Schattens brachte die Sonne den Asphalt zum Schmelzen, der Bürgersteig flimmerte. Irgendwo tobten Kinder in einem Pool; wir hörten ihre Schreie und das Platschen, wenn sie ins Wasser sprangen. Meine Mutter bestellte mir eine granita al limone, sie selbstnahm einen caffè freddo .
    Sie schäumte vor Wut.
    »Unglaublich!«, sagte sie und zündete sich eine Zigarette an. Ihre Hand zitterte. Sie nahm einen tiefen Zug, behielt den Rauch lange im Mund und stieß ihn dann heftig aus. »Wenn ich das gewusst hätte!«
    »Wieso?«
    »Meine Oma hatte eine Wohnung in Genua.«
    »Und jetzt hat sie sie nicht mehr?«
    »Auch sie gibt es nicht mehr, Zeno.«
    »Ich weiß. Ich meine die Wohnung, was ist damit passiert?«
    »Mein Vater hat sie geerbt, anschließend ich.«
    »Und dann?«
    »Haben wir sie verkauft.«
    Der Kellner brachte unsere Bestellung. Ich nahm einen zu großen Löffel granita , die Kälte durchzuckte meine Zähne wie ein elektrischer Schlag und drang bis in mein Gehirn vor. Ich verzog schmerzhaft das Gesicht. »Das wusste ich gar nicht«, sagte ich und massierte mir die Schläfen. »Wieso weiß ich das nicht?«
    »Die Wohnung über dem Montelusa musste renoviert werden. Wir brauchten Geld. Du warst noch klein.«
    »Lag die Wohnung hier in der Nähe?«
    Sie zeigte vage nach Westen.
    »War sie groß?«
    »O ja. Sie lag in einem alten Palazzo mit riesigen Treppen. Ich kann mich noch an ein Zimmer mit Balkon erinnern. Dein Großvater nannte es Voliere, weil es so hell war und zwei hohe Fenster hatte. Als ich noch klein war, habe ich dort meine Oma besucht.« Sie winkte den Kellner herbei und bestellte noch einen caffè.
    »Möchtest du noch etwas? Hast du Durst?«
    »Nein. Wie war deine Oma denn so?«
    »Eine liebenswerte, zerstreute Frau. Ich habe sie nur selten gesehen, hing aber sehr an ihr. Sie hat mich immer mit zum Möwenfüttern genommen.«
    Meine Mutter hatte nie viel von ihrer Familie erzählt.
    Ich hatte meine Großeltern nie kennengelernt, weil sie gestorben waren, zumindest dachte ich das damals. Wenn ein Elternteil nie über Vater und Mutter spricht, wenn man weder zum Geburtstag noch zu Weihnachten ein Geschenk bekommt, geht man automatisch davon aus, dass die betreffende Person, über die nie gesprochen wird, tot ist. Und da meine Mutter nur ungern von sich erzählte, hatte ich es stets vermieden, Fragen zu stellen. Als wir an jenem Nachmittag damit begannen, den Hang der Erinnerungen hinunterzupurzeln, beschlichen mich zwiespältige Gefühle: Angst und Aufregung. Was braute sich da zusammen? Unausgesprochenes, Verheimlichtes. Und ungeduldig, wie ich damals war, stürzte ich mich kopfüber hinein.
    »Wo sind meine Großeltern begraben? Meine Großeltern.«
    »Deine Oma ist in Turin begraben, in meiner Geburtsstadt.«
    »Und mein Opa?«
    »Warum willst du das wissen?«
    »Ist er auch in Turin begraben oder hier in Genua bei seiner Mutter?«
    Der Kellner brachte meiner Mutter den zweiten caffè freddo , die beige crema war so dick, dass eine Kaffeebohne darauf liegen blieb.
    »War mein Opa aus Genua?«
    »Ja.«
    »Warum ist er nach Turin gezogen? Wegen der Oma? Du bist schließlich auch wegen Papà nach Capo Galilea gekommen.«
    »Das auch, aber nicht nur. Er hat dort Arbeit gefunden«, sagte sie. »Dein Großvater hat in Ivrea studiert, das ist nicht weit von Turin.«
    »Wieso nicht in Genua?«
    »In Ivrea gab es ein berühmtes Ausbildungszentrum. Wer das Glück hatte, dort angenommen zu werden, bekam anschließend sofort einen Job. Meist in der Firma, die es finanziert hat.«
    »Was war das für eine Schule?«
    »Eine für Mechanik. Für Elektronik. So genau weiß ich das nicht.«
    »Und welchen Beruf hatte er anschließend?«
    »Er war Unternehmensberater.«
    »Was macht ein Unternehmensberater?«
    »Er geht in Firmen und hilft dort, Probleme zu lösen.«
    »Ist das ein schöner Beruf?«
    »Keine Ahnung.«
    »Aber ihm hat er gefallen?«
    Meine Mutter nahm ihre Ohrringe ab, weil sie ihr zu heiß wurden. Ihre Haut glänzte, und sie hatte tiefe Ringe unter den Augen. Sie war nicht braun wie sonst um diese Jahreszeit. Sie spielte ein bisschen mit dem Strohhalm, malte Spiralen in die crema .
    »Ich habe das nie so genau verstanden«, sagte sie und

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