Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
Stephen King.
»Nein, du bleibst zu Hause!«, sagte sie.
»Warum?«
»Weil wir nicht wissen, wie lange es dauert. Weil die Notaufnahme kein Ort für Kinder ist. Weil du in einer Stunde zu den Großeltern gehen und ihnen Bescheid geben wirst.« Sie schloss die Augen. »Aber jag ihnen keinen Schrecken ein, verstanden? Und anschließend machst du Mathe.«
»Wieso denn Mathe?« Ich zuckte zusammen. »Wir haben keine Hausaufgaben auf.«
Sie drohte mir mit dem Mascarabürstchen. »Du musst Mathe lernen.«
»Du hast doch nicht etwa Simona angerufen?«
»Wieso, hätte ich das deiner Meinung nach lieber lassen sollen?«
»Ausgerechnet heute?«
»Warum nicht heute, Zeno?« Meine Mutter hob beide Hände, als wollte sie einen Pass annehmen, aber es gab keinen Ball aufzufangen. Vielleicht wollte sie auch Gedanken auffangen oder eine Kopfnuss andeuten. »Schreibst du am Dienstag eine Prüfung oder nicht?«
»Ja, aber …«
»Hast du morgen Fußballtraining?«
»Ja.«
»Welchen Tag haben wir heute?«
»Sonntag.«
Sie zählte an den Fingern ab: »Sonntag, Montag, Dienstag. Wann hattest du vor, mit Simona zu lernen?«
Ich unterdrückte ein genervtes Stöhnen und wollte in mein Zimmer verschwinden, hatte mich aber noch nicht von meinem Vater verabschiedet. Ich ging nach unten, wo er in der Küche saß und sich einen Eisbeutel an die Schläfe hielt. Ich umarmte ihn von hinten. Er drehte das Lederarmband, das er mir geschenkt hatte und auf dem »Zeno« in chinesischen Schriftzeichen stand.
»Es tut mir leid«, sagte er. Ich presste mein Ohr an seinen Rücken, denn von dort kam seine Stimme.
»Was?«
»Dass ich dir so einen Schrecken eingejagt habe.«
»Du hast mir keinen Schrecken eingejagt«, log ich.
»Wirklich nicht?«
»Wirklich nicht.« Er nahm meine Hand, und ich drückte ihn. »Ich wollte dir noch sagen, dass …«
»Darüber reden wir, wenn ich wieder da bin.«
»Ich …«
»Zeno, ich sagte, darüber reden wir, wenn ich wieder da bin.«
»Ich bin so weit, wir können los«, sagte meine Mutter.
Ich half ihm beim Aufstehen. »Wartet.« Ich rannte in die Küche, um Handy und Aufladegerät zu holen. »Hier!«
»Der Akku ist leer.«
»Dann ladet ihr ihn eben im Krankenhaus auf.« Ich steckte beides in ihre Tasche.
Ich sah ihnen nach. Es war sieben Uhr morgens, und ich war müde, denn ich war früh aufgestanden. In diesem Moment fiel mir der Wolfsbarsch wieder ein. Er war im Boot geblieben, und ich beschloss, ihn zu holen. Unterwegs traf ich meinen Großvater Melo, der eigentlich Carmelo heißt. Aber mit drei hatte ich ihn Melo getauft – ein Name, der ihm geblieben war. Er kaufte gerade die Zeitung. Ich brachte ihm vorsichtig bei, was passiert war, und sagte Sachen wie alles nicht so schlimm, harmlos, nur eine kleine Platzwunde, einfach sehr müde . Daraufhin bat er mich, ihm die Handynummer auf einen Kassenzettel, den er aus seiner Hosentasche kramte, zu schreiben, auch wenn wir sie ihm schon zigmal gegeben hatten.
Außer meinem Großvater war so gut wie niemand unterwegs. Es war noch früh und ein wunderschöner Tag. Zwischen den Häusern hing ein leises Summen, so als schnurrte der ganze Ort wohlig wie eine Katze.
Die Fische waren alle noch im Eimer. Der größte Wolfsbarsch meines Lebens! Ich trug ihn nach Hause, legte ihn in den Kühlschrank, ging auf mein Zimmer und zog die Vorhänge zu. Ich schlüpfte unter die Decke und schlief ein. Zwei Stunden später weckte mich ein Klingeln. Ich machte auf. Es war meine Großmutter.
»Zeno, isst du mit uns zu Mittag?«
»Ja.«
»Wir haben auf dem Handy angerufen, aber da geht bloß eine Frau mit einer merkwürdig metallischen Stimme dran. Meinst du, ich habe mich verwählt?«
»Nein, Oma, du hast dich nicht verwählt, das Handy ist ausgeschaltet. Und wenn es ausgeschaltet ist, sagt eine Stimme, dass der Anschluss vorübergehend nicht erreichbar ist. Was hat die Stimme denn gesagt?«
»Was weiß ich! Als ich sie gehört habe, habe ich sofort aufgelegt. Ich will nicht mit dieser Frau reden. Ich will deinen Vater oder deine Mutter sprechen.«
Hinter ihr konnte ich zwischen dem Basilikum und der Rathausmauer Simona auf ihrem Fahrrad entdecken. Simona ging in die zehnte Klasse und sollte aus meiner ignoranten Zahlenaversion eine intelligente Zahlenaversion machen. Ihr Plan sah vor, dass ich meine Matheaversion behalten durfte, aber nicht ohne zu wissen, wogegen sie sich genau richtete. Noch war ihr Plan nicht aufgegangen, aber allein Simonas Anwesenheit
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