Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
Seitentaschen schlüpfte, das Haus verließ und einen Espresso auf der Piazza trank, um anschließend auf den Markt zu gehen.
Hätte ich im Zahnfleischbluten meines Vaters ein Alarmsignal erkennen können? Nachts schwitzte er so stark, dass meine Mutter das Bettzeug wechseln musste – genau wie damals, als ich noch klein war und ins Bett machte. Wenn sie keine Lust hatte, es zu waschen, hängte sie es einfach auf die Leine, damit es von Sonne und Wind getrocknet wurde. »Heute Abend wirst du das Gefühl haben, im Freien zu schlafen«, sagte sie dann, um sich zu rechtfertigen. Schließlich war der ganze Innenhof schon ein einziges Flattern von Tischdecken und Servietten. Nun auch noch Bettzeug.
Barg dieses Fahnenschwenken ein an mich gerichtetes verschlüsseltes Signal?
Englisch- und Matheprüfungen bestehen. Das Vorne-an-der-Tafel-ausgefragt-Werden überleben. Es bis an die Spitze des Capo Galilea Football Club schaffen, selbst wenn man in eine höhere Altersklasse wechselt, plötzlich wieder der Kleinste ist, und es Vierzehnjährige gibt, deren behaarte Beine deine Hand streifen. Mit dem Rad den Caddusu – das karge, buckelige Gelände am nördlichen Ende des Dorfes – rauf und runter brettern, und zwar in weniger als vierzehn Minuten. Comics tuschen und mit der Airbrushpistole kolorieren, und dann natürlich noch Michele und Salvo und der Strand (Sex war damals noch kein Thema für mich): Das war meine Welt, von dort kamen die Signale, die ich entziffern konnte, als mir das Leben im Frühling 1999 plötzlich um die Ohren flog.
Meine Eltern, Vittorio Montelusa, siebenunddreißig, geboren in Capo Galilea – und zwar zu Hause, weil es bei uns kein Krankenhaus gibt, das nächstgelegene ist siebenundzwanzig Kilometer entfernt –, und Agata Coifmann, dreiunddreißig, geboren in Turin, führten das Familienlokal Mare Montelusa, das mein Großvater 1954 eröffnet hatte und das für seine traditionelle sizilianische Küche berühmt war. In vielen Reiseführern wurde das Mare Montelusa für die sarde a beccafico meiner Großmutter Giovanna, für das gute Preis-Leistungs-Verhältnis und für die familiäre Atmosphäre gelobt. Bevor meine Großeltern das Lokal ihrem einzigen Sohn und dessen Frau übergaben, war die Arbeit wie in einer von Henry Fords Fabriken organisiert gewesen. Weniger im Sinne von Fließbandarbeit, sondern im Hinblick auf die Bevormundung der Mitarbeiter, bestehend aus Hilfsköchen, Kellnern, Tellerwäschern und Lieferanten, sodass mein Vater mit zwanzig nach Turin floh, um fernab der übermächtigen Vaterfigur seine eigenen Erfahrungen zu machen.
Mein Vater hatte noch einen zehn Jahre älteren Bruder, Onkel Bruno, der sich jedoch nie fürs Kochen, geschweige denn fürs Montelusa interessiert hatte. Nach seinem Ingenieurstudium war er für ein Praktikum nach Australien gegangen und nie mehr zurückgekehrt. Er hatte geheiratet, zwei Töchter bekommen und lebte in der Nähe von Melbourne. In meinen ersten zwölf Lebensjahren habe ich ihn bloß dreimal gesehen, und beim ersten Mal war ich noch so klein, dass ich mich nicht mehr daran erinnern kann.
In Turin arbeitete mein Vater in einer in den Hügeln gelegenen Trattoria, die sich auf fritto misto alla piemontese und bagna cauda spezialisiert hatte. Von dort aus hatte er einen fantastischen Blick auf den Po, auf die Dächer der Stadt und die Alpen. Als er eines Morgens über den Markt an der Porta Palazzo schlenderte, traf er eine junge Frau, die gerade nach den richtigen Aprikosen für die richtige Konfitüre für das Sachertortenrezept ihrer Mutter, meiner Großmutter Elena, suchte (die ich leider nie kennengelernt habe). Wie er später erzählte, war er, fasziniert von ihren roten Haaren, stehen geblieben – und das, obwohl sie gar nicht rot sind (meine Mutter hat kastanienbraune Haare). Doch wegen des orangefarbenen Sonnensegels, das der Gemüsestandbesitzer an jenem heißen Herbsttag aufgespannt hatte, müssen sie tatsächlich so ausgesehen haben. Haare, die meinen Vater in Kombination mit den grünen Augen meiner Mutter – und die sind tatsächlich grün – dermaßen hypnotisiert haben, dass alles andere aus seinem Blickfeld verschwand.
Sie waren jahrelang ein Paar, ohne groß darüber zu reden oder ihre Beziehung zu legalisieren – ganz einfach aus dem Bedürfnis heraus, in einer unbeschwerten Zeitblase zu leben. Erst als sie sich offiziell verlobten und mein Vater fremden Küchen nicht mehr viele Geheimnisse abschauen konnte, fragte er
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