Der Sommer am Ende des Jahrhunderts: Roman (German Edition)
anzuwerfen, um meinen Vater an Land zu bringen. Einen Vater, der aus meiner Sicht genauso gut tot hätte sein können.
Das erste Handy, das 1998 in die Familie Montelusa-Coifmann Einzug hielt, war ein Motorola Star TAC . Mein Vater und ich hatten es wegen unserer gemeinsamen Star Trek- Leidenschaft ausgesucht. (Das StarTac war vom Kommunikator inspiriert, den Käpt’n Kirk und andere Besatzungsmitglieder der Enterprise benutzten.) Angeregt hatte den Kauf allerdings meine Mutter, denn wenn mein Vater in Herbstnächten bei starkem Nordostwind mit dem Boot draußen war, musste sie aufstehen und die Wohnzimmermöbel polieren oder Konserven beschriften, um ihre Angst zu betäuben. Sowohl zu Hause als auch im Restaurant gab es ein Festnetztelefon. Aber wenn wir verreisten oder über Nacht wegblieben, nahmen wir immer das Handy mit – mehr zur Beruhigung als aus einer echten Notwendigkeit heraus.
An diesem Morgen hatten wir es zu Hause gelassen. Der Akku war leer, und mein Vatter hatte vergessen, ihn wieder aufzuladen.
Ebenso angsterfüllt wie ahnungslos stürzte ich mich auf den Außenbordmotor. Ich zog an der Anlasserleine, aber der Vergaser wurde von meiner Angst verstopft. Ich entlüftete den Tank, wie ich das bei meinem Vater schon oft gesehen hatte. Daraufhin änderte der Motor sein Geräusch, vielleicht lag es am Zündfunken. Anschließend sprang er an. Ich atmete durch Nase, Mund und Ohren. Ich hatte das Boot bereits gesteuert, aber stets unter Aufsicht meines Vaters, der kontrollierte, wie fest ich die Ruderpinne hielt und in welche Richtung der Bug zeigte. Ich brauchte eine Viertelstunde bis zum Landungssteg – fünfzehn Minuten, in denen sich die Erdzeitalter hintereinander auftürmten, Gletscher und brüllende Lavahitze mit sich brachten. Es fielen auch Worte; Worte, die ich nicht aussprach, die mir aber trotzdem über die Lippen kamen: Wach auf, Papà, wach auf! In dieser Viertelstunde verschwendete ich keinen Gedanken daran, was ich tun würde, wenn ich das Boot vertäut hätte. Bestimmt würde aus dem Nichts ein Krankenwagen auftauchen. Doch dem war nicht so, keine Menschenseele war zu sehen. Ich sprang auf die Hafenmole, packte meinen Vater unter den Achseln und versuchte, ihn aus dem Boot zu hieven, aber er war zu schwer. Bis nach Hause waren es acht Minuten zu Fuß – zwei, wenn man rannte. Anderthalb Minuten später sackte ich auf dem Wohnzimmerboden zusammen. Meine Mutter hatte mich vom Fenster aus gesehen und kam leichenblass die Treppe herunter, einen ganzen Katalog stummer Fragen auf den Lippen.
»Ohnmächtig. Lauf. Hafenmole. Boot«, sagte ich.
Sie verließ barfuß das Haus, in dem Wolverine-T-Shirt, das ihr eine Freundin aus Los Angeles mitgebracht hatte und das ihr vier Nummern zu groß war. Sie benutzte es als Nachthemd. Sie rannte unter einem dermaßen bunt schillernden Himmel davon, dass man meinen konnte, sämtliche Engel des Paradieses hätten ihn grün und blau geschlagen.
Wie wir später erfuhren, wurde sie dabei von Don Luciano gesehen, der Bibelverse zitierend durch die Gassen von Capo Galilea lief; von Lorenzo, dem Sohn des Gemüsehändlers, der gerade von einer Party zurückkam und stehen geblieben war, um an die Leitplanke zu pinkeln, sowie von Signora Puglisi, die an Schlaflosigkeit litt, ihren Mann nicht wecken wollte und deshalb auf ihrer Terrasse saß und Kreuzworträtsel löste. Sie alle sahen uns rennen und beugten sich neugierig vor, weil sie wissen wollten, was das wohl für ein Notfall sei. Aber der Notfall hatte sich bereits erledigt: An der Hafenmole saß mein Vater auf dem Boot und hatte den Kopf in die Hände gestützt. Er blutete stark aus seiner Schläfenwunde. Wir halfen ihm auf den Landungssteg.
Nachdem wir die Wunde zu Hause desinfiziert und mit Gaze verbunden hatten, sagte meine Mutter, sie gingen jetzt in die Notaufnahme. Nicht die Wunde mache ihr Sorgen – mein Vater hatte sich in der Küche oder als Kind beim Fischen an den Felsen schon ganz andere Wunden zugezogen, von denen er eine lange Narbe an der linken Wade zurückbehalten hatte –, sondern der Ohnmachtsanfall. Mein Vater war noch nie in seinem Leben in Ohnmacht gefallen.
»Ich komme mit.«
Meine Mutter saß auf dem Bett und zog sich einen Rock an. Neben ihr auf der Kommode stapelten sich Romane von Stephen King, John Grisham und Georges Simenon. Die Mütter meiner Freunde lagen im Liegestuhl und lasen Romane über Hunde oder japanische Liebespaare, doch meine Mutter entspannte sich abends mit
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