Der Sommer der lachenden Kühe
finni schen und russischen Landvermesser zusammen gefei ert. Die Russen seien schreckliche Säufer gewesen, der Wodka sei in Strömen geflossen. Zu jener Zeit sei er, Taavetti Rytkönen, noch ein junger Mann gewesen, eben aus dem Krieg heimgekehrt, und er habe nicht viel Ahnung von Wodka gehabt, auch nicht besonders viel von den Russen.
»Wodka kann ich inzwischen vertragen, aber die Rus sen immer noch nicht.«
Rytkönen lehnte sich an den gezackten Rand der obersten Plattform und blickte wehmütig in die Ferne.
»An früher entsinne ich mich recht gut, am besten an die ganz alten Zeiten. Aber aus der Gegenwart kann ich mich an nichts erinnern, beim besten Willen nicht.«
Der alte Mann schluckte. Es machte ihn richtig wü tend, dass ihn sein Gedächtnis so im Stich ließ. Auch von diesem Tag wusste er so gut wie nichts mehr, das musste er leider zugeben. Er wusste nicht, von wo aus er am Morgen gestartet war, in seinem Gehirn herrschte absolute Leere. Irgendwo wohnte er mit Sicherheit, nur wusste er nicht mehr wo.
Wenn so ein Anfall von Gedächtnisschwund kam, half es ihm nicht, innezuhalten. Er musste etwas unterneh men, sonst packte ihn das pure Entsetzen, genau wie im Krieg, wenn die Gefahr gedroht hatte, dass man vom Feind umzingelt wurde. Nur schnell weg, hatte er da mals gedacht, sonst bleibst du hier und wirst getötet.
»Wie heißen Sie, junger Mann?«
»Seppo Sorjonen«, sagte der Taxifahrer und reichte ihm die Hand.
»Rytkönen… Moment, Taavetti Rytkönen«, sagte der Alte, und sein Gesicht strahlte. Es war doch noch nicht alles verloren, wenn man seinen Familiennamen und sogar den Vornamen wusste.
»Du kannst mich duzen, wenn du willst«, schlug er dem Fahrer vor.
Während sie sich die Hand schüttelten, lief eine große Ratte über die Aussichtsplattform und verschwand auf der Treppe. Rytkönen entdeckte sie zuerst. Er wunderte sich, was Ratten hier oben auf dem steinernen Turm zu suchen hatten. Er erinnerte sich, irgendwo gelesen oder gehört zu haben, dass Ratten insofern seltsame Lebewe sen waren, als ihnen leicht schwindlig wurde. Sie bau ten ihr Nest nicht gern an hoch gelegenen Stellen, son dern fühlten sich in der Kanalisation und in Kellern am wohlsten.
Während sie zum Auto zurückkehrten, bereute Ryt könen seine Gefühlsausbrüche von vorher. So schlimm konnten seine Gedächtnisausfälle nicht sein, schließlich war er gut beisammen, ordentlich gekleidet und hatte reichlich Geld bei sich. Er äußerte laut die Vermutung, dass ihm alles wieder einfallen werde, wenn er nur gelassen bleibe. Seppo Sorjonen stimmte zu. Man könne ganz ruhig sein, an diesem schönen finnischen Sommer tag. Ihn als Fahrer interessiere lediglich, was als Nächs tes geschehen solle. Sei es Zeit zur Umkehr, oder wolle man weiterfahren?
Rytkönen blieb ungehalten stehen.
»Hab ich dir nicht klipp und klar gesagt, dass ich nicht weiß, wo mein Zuhause ist? Falls ich überhaupt eins habe!«
Sorjonen entschuldigte sich. Es falle ihm einfach schwer, sich daran zu gewöhnen, dass der Fahrgast nicht wisse, wohin er wolle, geschweige denn, woher er komme.
»Fang nicht dauernd wieder davon an! Wenn dir diese Tour nicht gefällt, dann fahr mich doch zur Polizeiwa che, dort stecken sie mich in die Zelle und besorgen sich dann alle Informationen, die sie brauchen. Die Polizei hat ihre Mittel und Wege.«
Sorjonen versprach, seinen Fahrgast künftig mit neugierigen Fragen zu verschonen. Auf keinen Fall wolle er Rytkönen in Hämeenlinna einsperren lassen, er wolle ihm nur helfen. Wie wäre es, wenn sie sich im Hotel einquartierten und auf eigene Faust versuchten, Rytkönens Herkunft herauszufinden?
Murrend willigte Taavetti Rytkönen ein. Sorjonen ver sprach, für die Nacht keine Wartezeit zu berechnen. Er fuhr zum Hotel Aulanko und mietete zwei Einzelzimmer. Da sie beide kein Reisegepäck hatten, waren sie rasch in ihren Räumen. Sorjonen ging zu Rytkönen ins Zimmer. Sie überlegten, wie sie am klügsten vorgehen sollten.
»Erinnerst du dich an deine Telefonnummer?« »Nein, sie fällt mir nicht ein.«
Sorjonen bat den Portier, ihnen das Telefonbuch mit den Privatanschlüssen von Helsinki heraufzubringen. Er blätterte in dem dicken Buch und suchte nach dem Namen seines Fahrgastes. Die Rytkönens füllten etwa eine Seite. Leider befand sich kein einziger Taavetti Rytkönen unter ihnen. Der ziellos Herumirrende konnte nicht zu Hause anrufen.
»Im Übrigen, selbst wenn dort meine
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