Nana
Émile Zola
Nana
(Nana)
Erstes Kapitel.
Das Variététheater war um neun Uhr fast leer. Auf dem Balkon und im Orchesterraum hatten sich nur wenige Personen eingefunden, die auf ihren mit rotem Samt überzogenen Sitzen bei dem Zwielichte des herabgedrehten Gaskronleuchters kaum wahrzunehmen waren. Der Vorhang erschien im Dunkel des Saales als ein großer, roter Fleck; auf der Bühne war es noch still, die Lichter der Rampe waren noch nicht angezündet, die Pulte der Musiker standen in Unordnung durcheinander. Nur oben auf der dritten Galerie rings um die Rundung der Decke, an der nackte Frauen-und Kinderfiguren in einem von Gaslicht grün gefärbten Himmel schwebten, ertönten laute Zurufe und Gelächter; hier sah man unter den mit Goldleisten umrahmten breiten Bogenöffnungen staffelweise die mit Häubchen und Mützen bekleideten Köpfe des Galeriepublikums aneinandergereiht. Von Zeit zu Zeit erschien sehr geschäftig und die Hände voll Kartenabschnitte die Billettabnehmerin. Jetzt schob sie einen Herrn und eine Frau vor sich her, die Platz nahmen; der Herr trug einen schwarzen Rock; die Dame, schmächtig und bucklig, ließ langsam ihre Blicke im Saale umherschweifen.
In diesem Augenblicke erschienen zwei junge Leute im Orchesterraum. Sie blieben stehen und schauten sich um.
Ich sage dir's ja, Hektor, rief der ältere, ein großer, junger Mann mit schwarzem Schnurrbärtchen, daß wir zu früh kommen. Du hättest mich ganz gut meine Zigarre zu Ende rauchen lassen können.
Eine Billettabnehmerin ging vorüber.
Ach, Herr Fauchery, sagte sie vertraulich, es wird kaum vor einer halben Stunde angehen.
Warum zeigt man dann den Beginn auf neun Uhr an? brummte Hektor, dessen langes, mageres Gesicht eine verdrießliche Miene annahm. Clarisse, die in dem Stück beschäftigt ist, versicherte mir erst heute morgen wieder, daß es genau um neun Uhr beginnen werde.
Die jungen Leuten schwiegen eine Weile; sie schauten in die Höhe und suchten mit ihren Blicken das Dunkel der Logen zu durchdringen. Allein, die grünen Papiertapeten, mit denen die Logen bekleidet waren, machten diese noch dunkler. Die »Baignoires« 1 im Hintergrund, unterhalb der Galerie, verschwanden in einer vollständigen Finsternis. Nur in einer der Balkonlogen war eine wohlbeleibte Dame zu sehen, die sich auf die samtbekleidete Brustwehr hinauslehnte. Die mit langfransigen Vorhängen versehenen Vorbühnenlauben rechts und links, zwischen hohen Säulen, blieben leer. Der mit Weiß und Gold verzierte Saal, dessen Grundfarbe durch ein helles Grün hervortrat, verschwamm, wie mit feinem Staub erfüllt, in dem schwachen Lichte der Flammen des großen Kristalleuchters.
Hast du die Vorbühnenlaube für Lucy bekommen? fragte Hektor.
Ja, erwiderte der andere; aber es ging nicht ohne Mühe. Lucy wird sicherlich nicht zu früh kommen.
Er unterdrückte ein leises Gähnen und fuhr nach kurzem Schweigen fort:
Du hast Glück mit der Erstaufführung, der du beiwohnst ... › Die blonde Venus ‹ wird das Ereignis des Jahres. Man spricht seit sechs Monaten von dem Stück. Oh, mein Lieber, welche Musik und welche pikante Szenen! Bordenave, der sich darauf versteht, hat das Stück für die Zeit der Ausstellung aufgehoben.
Hektor hörte aufmerksam zu. Dann fragte er:
Kennst du Nana, den neuen Stern, der die ›Venus‹ spielen wird?
Da hat man's, rief Fauchery händeringend, jetzt kommst du mir auch damit! Seit dem Morgen quält man mich mit Nana. Ich bin mehr als zwanzig Personen begegnet – und Nana hier, Nana dort ... Was weiß ich? Kenne ich alle Mädchen in Paris? ... Nana ist eine Entdeckung von Bordenave. Es muß eine saubere Person sein!
Er beruhigte sich allmählich; die Leere des Saales, das Zwielicht des Leuchters, diese Kirchenstille, nur unterbrochen durch das Flüstern von Stimmen und das Zuklappen der Türen, versetzten ihn in Aufregung.
Nein, sagte er endlich ungeduldig, ich halte es nicht länger aus; hier wird man ja alt und grau vor Langeweile, ich gehe hinaus. Vielleicht finden wir unten Bordenave; der wird uns Einzelheiten mitteilen.
Unten, in dem großen mit Marmorplatten belegten Vorraum, wo die Kassen sich befanden, begann das Publikum zu erscheinen. Durch die drei offenen Türen sah man das rege Leben auf den Boulevards, die sich in der schönen Aprilnacht strahlend und von Spaziergängern wimmelnd dahinzogen. Man hörte vor dem Theater die heranrollenden Wagen kurz anhalten, die Türen schlossen sich geräuschvoll; das Publikum
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