Der Sommer der Toten
„Die Kirche lebt nicht ganz so hinter dem Mond, wie allgemein angenommen wird. Anna hat den Auftrag, dass sie die Rechnung für Ihren Aufenthalt hier an mich schickt, wenn Sie uns helfen. Das schließt auch den Zeitraum vor diesem Vorfall ein.“
„Oh ...“ Bianca wirkte verlegen. „Danke ...“
„Neben uns dreien gibt es zwei weitere Personen, die in die Geschichte eingeweiht sind. Der Bürgermeister und seine Stellvertreterin. Die Stellvertreterin ist übrigens Anna. Mit ihr können Sie über alles reden. Den Bürgermeister werden Sie morgen kennen lernen.“
„Und Kurt?“, fragte Werner.
„Er wird es wahrscheinlich noch erfahren“, sagte Pfarrer Schuster. „Aber nicht jetzt. Der Junge ist ein nervliches Wrack. Ich möchte zu gerne wissen, was ihn geritten hat, sich auf diese Stelle zu bewerben.“
„Das ist ganz einfach“, erklärte Werner. „Liebe versetzt bekanntlich Berge und das war die einzige freie Stelle, die hier im Ort zu vergeben war. Und er war der einzige Bewerber.“
„Aber er war doch schon als Kind sehr sensibel ...“
„Er ist es auch noch jetzt. Ich habe ihm schon mehrmals geraten, sich nach einer anderen Arbeit umzusehen. Er gibt sich alle Mühe und ich bin sehr zufrieden mit ihm, aber ich spüre deutlich, dass er unter dieser Arbeit sehr leidet.“
„Ich werde mich darum kümmern“, sagte Pfarrer Schuster. „Ich möchte aber nicht, dass er noch ein einziges Grab aushebt.“
„Einverstanden.“ Werner wirkte fast erleichtert. „Ich bin zwar nicht glücklich darüber, dass ich die Arbeit wieder alleine machen muss, aber für Kurt ist es wirklich das Beste.“
„Wir werden einen Nachfolger finden.“ Der Pfarrer wandte sich wieder an Bianca. „Ich möchte Ihnen noch den Rest der Geschichte erzählen.“
„Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich die noch hören möchte“, antwortete Bianca zweifelnd.
„Wahrscheinlich möchten Sie es nicht, aber Sie sollten schon wissen, warum mir Ihre Mitarbeit so wichtig ist. Sie sind Wissenschaftlerin und Sie kommen nicht aus dieser Gegend. Ich bete und hoffe, dass Sie wirklich diskret vorgehen, aber eine andere Wahl habe ich nicht. Wenn ich mich an ein Institut wende, muss ich befürchten, dass dieser Ort von Reportern überrannt wird. Das möchte ich vermeiden und möchte Sie auch bitten, darauf zu verzichten. Sie würden damit die Existenz von sechshundert Menschen gefährden. In diesem Ort kämpfe ich schon seit Jahren gegen den Aberglauben der Leute an. Ohne Erfolg. Die Leute haben Fernseher mit Dutzenden von Fernsehprogrammen, Computer, mit denen sie rund um den Globus kommunizieren können, und diese neumodischen Telefone, die sie überall mit hinnehmen können. Ich halte von alldem nichts. Ich gehe nicht so weit, zu behaupten, das alles sei das Werk des Teufels, aber diese technischen Profanitäten verschleiern den Blick des Menschen auf das Werk Gottes. Lachen Sie meinetwegen darüber, aber ich habe eine Lebensaufgabe, die ich erfüllen möchte. Trotz all dieser modernen Sachen sind Geisterbeschwörungen, heidnische Riten und Angst vor Dämonen hier an der Tagesordnung. Und ein Gerücht hält sich besonders hartnäckig.“
Der Pfarrer stand auf und ging zu einem Bücherregal. Er zog ein sehr altes voluminöses, in Leder gebundenes Buch heraus und blätterte in den vergilbten Seiten herum.
„Hier“, sagte er schließlich und las vor. „ Er, der das Böse bekämpfet, kommet wieder, wenn seine Ahnen allesamt vor dem Richterstuhl des Herren stehen. Seine Armee werde befreiet von denen, die seine Lehren vergaßen und sein Tun beendeten an jenem Tag, an dem sie sein Leben beendeten. “
Der Pfarrer klappte das Buch wieder zu und hob es so Bianca entgegen, dass sie den Umfang des Werkes begutachten konnte.
„In diesem Buch“, sagte er, „ist der Volksglaube dieser Gegend aus fast vier Jahrhunderten zusammengefasst. Was ich Ihnen vorgelesen habe, ist so ziemlich der einzige Auszug aus diesem Buch, der bis heute überliefert wurde. Alles andere wurde im Laufe der Zeit vergessen oder nur von Alteingesessenen gelehrt. Meist sehr alte Frauen, die noch vor einigen hundert Jahren sehr vorzeitig ihr Leben auf dem Scheiterhaufen beendet hätten.“
„Eine Art Fluch?“, fragte Bianca.
„So könnte man es nennen“, antwortete der Priester.
„Ich glaube, ich brauche Ihnen nicht zu sagen, was ich von alldem halte“, entgegnete Bianca. „Trotz allem, was ich heute gesehen habe. Ich werde zusehen, dass ich eine
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