Engelsschmerz
1
„Er ist ein Dickkopf.“
„Unübersehbar.“
„Er wird unseren Frieden stören. Er tut es bereits jetzt. Sieh dir an, wie sehr er gegen den Tod kämpft, der unvermeidlich ist. Er wird weiterkämpfen, selbst wenn er gestorben ist.“
„Er ist jung.“
„Das ist keine Entschuldigung.“
„Alle Jungen stören in der ersten Zeit den Frieden. Das war schon immer so und wird auf ewig so bleiben.“
„Du magst ihn.“
„Er erinnert mich an mich selbst.“
„Warum wundert mich das nicht? Nun denn … Ich überlasse ihn deiner Obhut.“
„Danke, Michael.“
„Dank' mir nicht, Aiden. Nicht für ihn. Er wird dich deinen … wie sagen die Sterblichen, letzten Nerv? Ja, er wird dich deinen letzten Nerv kosten.“
„Er ist es wert.“
Ich kann nicht sagen, wie lange es her ist, dass ich dieses Gespräch in meinem Kopf hörte, während ich auf der Intensivstation eines Krankenhauses lag und starb.
Zeit hat im Tod keine Bedeutung. Sie ist endlos. So wie der Himmel um mich herum. Ich habe als Lebender nicht daran geglaubt, dass es den Himmel nach dem Tode gibt. Dass dort Engel leben, die über die Menschen wachen. Sie beschützen, in den Tod begleiten, und ihnen Trost spenden, wenn sie sonst niemanden haben.
Mittlerweile weiß ich, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gibt, als ich mir je hätte vorstellen können. Als ich mir jemals vorstellen wollte. Ich will nicht hier sein. Ich wollte schon zurück, nachdem ich meine Augen aufgeschlagen hatte, und mir dank des blauen Himmels über mir sofort bewusst wurde, dass etwas nicht stimmt.
Mein Blick wandert in den Himmel. Ich wünschte, es würde gewittern oder stürmen. Ein Platzregen wäre toll. Irgendetwas. Ich kann dieses perfekte Klima nur schwer ertragen. Hier scheint tagsüber immer die Sonne und es ist angenehm warm. Es gibt keine Jahreszeiten, kein mieses Wetter. Die ständige Helligkeit schlägt mir aufs Gemüt, dabei sollte es andersherum sein. Den übrigen Engeln gefällt es.
Ich schaue auf den schlichten Platinring an meinem Finger. „Matt ...“, seufze ich leise und streiche dabei über das kühle Metall. „Du fehlst mir so sehr.“
Matthew. Mein Verlobter.
Besser gesagt, er war es mal, denn ich bin tot und er ist es nicht. Mein Blick wandert die Mauer entlang, auf der ich seit letzter Nacht sitze. Ich bin gerne hier und schaue auf die Welt hinab. Ich bin froh, dass es möglich ist. Außerdem habe ich in den Nächten meine Ruhe, und sie sind die einzige Zeit, wo es nicht hell ist.
Der Himmel ist irgendwie eine Art zweiter Erde, nur eben in der Luft. Ich weiß nicht, wie groß mein neues Zuhause ist, das von einer Mauer geschützt wird. Sie ist nicht hoch, man kann ganz bequem auf ihr sitzen oder auf ihr entlanglaufen. Ähnlich diesen Burgmauern, die früher um Schlösser oder Herrenhäuser gezogen waren. Rein äußerlich ist so vieles hier, wie ich es aus dem Geschichtsunterricht in der Schule kenne, auch wenn ich keinerlei Ahnung habe, wie man im Himmel Häuser aus Stein bauen kann. Allerdings hat es mich bislang nicht genug interessiert, um danach zu fragen.
So gesehen ist der Himmel wirklich schön, trotzdem will ich wieder weg. Zurück auf die Erde. Zu Matthew. Und wenn es einen Weg gibt, werde ich ihn finden.
„Ich verspreche es, Matt“, flüstere ich und küsse den Ring an meinem Finger, um im nächsten Augenblick aufzuhorchen. Sein leiser Flügelschlag verrät ihn. „Hallo Aiden.“
Er schnaubt und landet kurz darauf hinter mir. Ich spüre den Luftzug seiner Flügel, um die ich ihn beneide, seit ich den Schock meines Hierseins überwunden habe. Nur alte, erfahrene Engel haben Flügel, und ich bin ein Baby für Aidens Begriffe von Zeit. Er gehört mit zu den ältesten Engeln und er ist ein Wächter. Mein Wächter. Was Aiden zu einem äußerst nervigen Störenfried macht, der immer zu wissen scheint, wo ich mich aufhalte und meinen Gedanken nachhänge.
Aiden gehörte eine der Stimmen aus dem Gespräch, das ich ursprünglich für einen Traum hielt. Die zweite Stimme, ein Engel namens Michael, habe ich noch nicht kennengelernt, und wenn es nach den übrigen Engeln geht, werde ich das auch nie.
„Deine Schützlinge warten auf dich.“
Ich verdrehe die Augen. Das versucht er jedes Mal, aber nur weil ich mich an das Leben im Himmel nicht gewöhnen kann, bedeutet es nicht, dass ich die jungen Sterblichen vernachlässige, die mir zugeteilt wurden. „Sie schlafen noch, was du sehr gut weißt,
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