Der Sommerfaenger
dass er es nicht wusste. Es tat ihm leid, dass er all diese Leute nicht kannte und wahrscheinlich niemals kennenlernen würde. Er bedauerte, dass er Jette seine Zurückhaltung nicht erklären konnte, und es machte ihn fertig, dass sie seinetwegen unglücklich war.
»Haben sie schon einen Gitarristen?«, fragte er.
»Wieso? Kennst du einen?«
Im selben Moment beschloss er, Albert nicht zu erwähnen. Und wenn es ihn noch so reizen mochte, es konnte fatale Folgen haben, seine verschiedenen Lebensbereiche miteinander zu verbinden. Er winkte ab.
»Nee. War ’ne Schnapsidee.«
Sie waren nach Köln gefahren und schlenderten nun über den Roncalliplatz. Die halbe Stadt schien unterwegs zu sein. Lebende Statuen in Silber und Gold standen unbeweglich in der Gluthitze des Nachmittags. Ein Pflastermaler kauerte vor dem dreidimensionalen Bild einer Schlucht, die so täuschend echt wirkte, dass man bei ihrem Anblick fürchtete zu fallen. Am Dom fand ein Gothic-Treffen statt. Es wimmelte von schrill geschminkten Gesichtern, kunstvollen Frisuren und prächtigen Outfits.
Luke entspannte sich. Inmitten von Menschenmengen atmete er auf. Man konnte sich darin bewegen, ohne Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Schon hundertmal hatte er dem Himmel gedankt, dass es ihn ausgerechnet nach Köln verschlagen hatte, wo das Leben in den Straßen pulsierte und Toleranz kein Fremdwort war.
Er legte den Arm um Jette und drückte sie an sich. Sie ließ den Kopf an seine Schulter sinken und ihm stockte der Atem. Etwas in ihm löste sich, fiel nieder, schmerzlich und sanft, und er blieb stehen und drehte Jette zu sich herum. Auf den riesigen Gläsern ihrer Sonnenbrille spiegelten sich die Häuser, die Leute und er selbst.
Behutsam nahm er ihr die Brille ab.
Jette blinzelte. Ihre grauen Augen leuchteten. Ihr Ärger schien verflogen.
Luke küsste sie, und alle Geräusche verblassten, als hätte jemand am Ton gedreht. Die Hitze und der leise Wind, der über den Platz wehte, waren kaum noch zu spüren. Für den Moment gab es für Luke nur diesen Kuss und Jettes Körper, der sich an ihn drängte.
Als sie sich voneinander lösten, Jahrhunderte später, lächelte Jette ihn an. Er konnte sich in ihren Pupillen erkennen, ein bisschen verzerrt, wie mit einem Weitwinkelobjektiv aufgenommen.
Dann setzte Jette die Brille wieder auf, legte den Arm um seine Hüften und zog ihn weiter.
Sie schlenderten über die Hohe Straße. Jette blieb an jedem Schaufenster stehen, betrat jedoch kein Geschäft.
»Ich will nicht eine einzige Sekunde mit dir verpassen«, sagte sie.
Luke hörte den stillen Vorwurf, ohne dass sie ihn aussprechen musste.
Für jeden Schnorrer hatte sie ein paar Cent übrig, warf jedem Straßenmusikanten ein, zwei Münzen hin, sie kaufte ein Exemplar der Obdachlosenzeitung und ging an keinem vorbei, der die Hand aufhielt. Beschämt kramte Luke in seiner Hosentasche. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt irgendwem irgendwas gegeben hatte.
Er hatte dieses Mädchen nicht verdient.
Er durfte sie nicht in Gefahr bringen.
Aber wie sollte er das vermeiden?
Eine bange Ahnung hielt sein Herz umklammert, wie schon seit Tagen. Er wurde und wurde sie nicht los.
*
Obwohl ich seit meiner Geburt im Dunstkreis von Köln gelebt hatte, war mir die Stadt nie richtig vertraut geworden. Merle und ich gingen ab und zu in Köln shoppen, kamen dabei jedoch, wie die meisten Touristen auch, selten über die Altstadt hinaus. Klassenausflüge hatten mich in den Dom und ins Schokoladenmuseum geführt und meine Mutter hatte mich in eine Reihe von Museen und Theatern geschleppt.
Und nun war ich mit Luke hier.
Wenn wir wollten, konnten wir den Rest gemeinsam kennenlernen.
Wir hatten alle Zeit der Welt.
Unser Kuss, der all meinen Ärger binnen einer Sekunde beiseitegewischt hatte, steckte mir noch unter der Haut. Ich legte den Kopf in den Nacken und sah die Sonne am Himmel flirren. Die paar kleinen Wolken, die das kräftige Sommerblau betupften, waren strahlend weiß und makellos.
»Wie diese wolligen Schafe in Bilderbüchern«, sagte Luke, der meinem Blick gefolgt war.
Genau daran hatte ich auch gerade gedacht. Plötzlich fühlte ich mich ihm so nah, dass es mir das Herz zerriss, doch das wollte ich ihm nicht zeigen.
»Zwei Menschen, ein Gehirn«, spottete ich.
»Und wenn es so wäre?«
»Ja. Was wäre dann?«
Luke blieb stehen, den Arm um meine Schultern. Er betrachtete einen alten Mann, der mitten in der Fußgängerzone ein kleines
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