Der Sommerfaenger
einzubilden. Frau Sternbergs Körper hatte sämtliche Funktionen heruntergefahren, damit sie den Schmerz aushalten konnte, die Leere oder was auch immer in ihr wütete, wenn sie so in sich selbst versank.
Demenz war für die meisten Menschen nur ein Wort. Für die Heimbewohner war es ein Ort schwärzester Verzweiflung.
Frau Sternberg erlebte die Augenblicke absoluter Desorientierung mit großer Angst. Irgendwann hatte sie für sich selbst eine Möglichkeit gefunden, diese Angst über sich hinweggleiten zu lassen, indem sie sich tot stellte und den Zugang zu ihren Gefühlen kappte.
So jedenfalls erklärte ich mir ihr Verhalten in Momenten wie diesem. Behutsam nahm ich ihre Hand. Sie war leicht und knochig und kühl, als wäre schon alles Leben aus ihr gewichen. Ich strich mit dem Daumen über ihre Haut, die wie aus Pergament war und voller Altersflecken. Bei ihr zu sein, war alles, was ich für Frau Sternberg tun konnte.
Während ich an ihrem Bett saß und ihren Atemzügen lauschte, dachte ich an Luke. Die Geschichte mit dem Doppelgänger ließ mich nicht los. Vom ersten Tag an hatte ich den Eindruck gehabt, nicht an Luke heranzukommen. Als liebte ich ihn und gleichzeitig einen andern, der sich vor mir und der Welt versteckte.
Doch so erging es nicht nur mir.
Bei meiner Mutter hatte Luke sich innerhalb weniger Wochen unentbehrlich gemacht. Anfangs hatte er nur einige Aushilfsarbeiten für sie ausgeführt. Inzwischen war er fast zu ihrem Sekretär aufgestiegen. Er nahm ihr ab, was er konnte, erledigte ihren Papierkram, bereitete ihre Lesereisen vor, vereinbarte sogar Termine für sie.
»Aber obwohl er Teil meines Alltags geworden ist«, hatte meine Mutter mir neulich anvertraut, »komme ich nicht richtig an ihn heran. Er wahrt Distanz, unmerklich, aber äußerst bestimmt.«
Das war die Erfahrung, die viele Menschen mit Luke machten. Meine Freunde verkniffen sich in der Regel Bemerkungen dazu und ich war ihnen dankbar dafür. Ich hatte keine Lust, ständig meine Gefühle mit ihnen zu diskutieren und nach Erklärungen dafür zu suchen, warum ich Luke in mein Leben gelassen hatte.
Der Einzige, mit dem ich relativ entspannt über Luke reden konnte, war Tilo. Als Psychologe war ihm jedes Verhalten vertraut und er verurteilte nicht. Er beobachtete im Stillen, doch er behielt seine Rückschlüsse für sich. Tilos Toleranz war groß und freundlich. Und nicht nur dafür mochte ich ihn.
Allmählich erwärmte sich Frau Sternbergs Hand in meiner. Ihre Augenlider hatten aufgehört zu flattern. Sie lag nicht mehr so verkrampft da und atmete ruhig, fast schon entspannt.
Ich strich ihr das dünne weiße Haar aus dem Gesicht. Es fühlte sich an wie Feengespinst, seidenzart und so leicht, als besäße es überhaupt kein Gewicht.
»Versuchen Sie zu schlafen«, sagte ich leise. »Ich bleibe hier. Ehrenwort.«
Sie seufzte, kaum hörbar.
Die Hitze im Zimmer ließ mir den Schweiß über den Rücken laufen. Ich wollte aufstehen, um das Fenster zu öffnen, doch Frau Sternberg umklammerte mit einer erstaunlichen Kraft meine Finger.
»Ich wollte nur ein bisschen frische Luft hereinlassen.«
Frau Sternberg schlug die Augen auf und sah mich an. In ihrem Blick lag ein solches Flehen, dass ich den Gedanken aufgab und an ihrer Seite sitzen blieb.
»Pschsch …«
Ich beobachtete, wie sie die Augen wieder schloss.
Wenn es stimmte, dass Augen die Fenster zur Seele waren, in welchen Abgrund hatte ich dann eben geblickt? Noch während ich schwitzte, wurde mir kalt. Ich fragte mich, wie Frau Sternberg das aushielt, immer mehr Worte zu verlieren, immer mehr Wissen, mehr Erinnerungen, mehr Sicherheit. Wie sie es ertrug, immer tiefer in sich selbst abzustürzen und dennoch weiterzuleben.
Tag für Tag für Tag.
Auf einmal kam Luke mir so lebendig, so leidenschaftlich und zärtlich vor, dass ich aufgesprungen und zu ihm gefahren wäre, wenn ich Frau Sternberg nicht versprochen hätte, mich nicht von der Stelle zu rühren.
Ich räusperte mich. Und erzählte der alten Frau von Luke und mir.
Mir war nicht klar, ob meine Worte zu ihr vordrangen oder nicht, aber das war mir auch egal. Frau Sternberg war mir oft so nah wie meine eigene Großmutter, und sie hatte mir schon mehr geholfen, als sie jemals ahnen würde.
Sie war da und fing mich an diesem trostlosen Nachmittag allein mit ihrer Gegenwart auf.
Zögernd fanden die ersten Worte ihren Weg in dieses einsame, stickige Zimmer. Sie schwebten eine Weile mit den winzigen Staubpartikelchen in
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