Drachenmonat
Ake Edwardson
Drachenmonat
Aus dem Schwedischen von Angelika Kutsch
Für meinen kleinen Bruder Mats und seine Tochter Anna-Cajsa
Ein herzliches Dankeschön an Hanna
1
Meine Mutter brauchte einen halben Tag, um aus dem Bett zu kommen. Manchmal war sie noch nicht mal aufgestanden, wenn ich aus der Schule kam. Manchmal schien die Sonne ins Zimmer, aber Mutter lag unter ihrer Decke, als fürchtete sie sich vor Licht. Manchmal hatte ich Lust, ihr die Decke wegzureißen und sie anzuschreien, jetzt stehst du auf, du verdammte Kuh!
»Bist du krankt«, fragte ich stattdessen.
»Ich bin nur ein bisschen müde, Tommy.«
»Ein bisschen? Und außerdem heiße ich nicht Tommy.«
»Ach ja, Kenny.«
»Wovon bist du immer so müde?«, fragte ich vielleicht weiter. Aber darauf konnte sie nie antworten. Und ich hatte auch keine Antwort. »Würdest du mir bitte ein Glas Wasser holend« Wasser. Wasser ist wichtig für einen Samurai. Im vergangenen Sommer habe ich mich in einem Bach im Wald Kenny getauft. Ich habe Wasser auf die Schwertklinge gegossen, bis es sich in Blut verwandelte. Früher hieß ich Tommy. Jetzt gehörte dieser Name jemandem, den es nicht mehr gab, der kein Samurai war. Kenny war ein Samurai. Den Namen habe ich gewählt, weil Ken auf Japanisch Schwert bedeutet. Ich bin Samurai geworden, weil ich die Kontrolle über mich selber haben will. Aus dem Grund habe ich zum Beispiel Mutter nicht die Decke weggerissen, um sie aus dem Bett zu treiben. Oder sie beschimpft. Früher, als ich noch Tommy war, habe ich häufig geflucht. Früher hatte ich mich kaum unter Kontrolle. Aber dann wollte ich Ordnung in mein Leben bringen. Einer in der Familie musste ja für Ordnung sorgen.
»Kenny? Bist du so nett und bringst mir etwas Wasser?-« War ich nett? Ich hoffte, dass ich nett zu den Netten und hart zu den Gemeinen war. Von beiden Arten gab es genug auf dem Hof, wo wir wohnten, und in der Siedlung und in der Stadt. Ich nehme an, dass es rundum überall gleich war, im Land, im Erdteil, auf der Welt, im Sonnensystem, dem Rest des Universums, in der Galaxie und allen anderen Galaxien.
Nette und Gemeine. Manchmal dachte ich darüber nach, was die Menschen zu netten oder gemeinen Menschen machte. Es war nie eine Mischung aus beidem, entweder war jemand nur nett, oder jemand war nur gemein. Einige waren wild und streitsüchtig, wie ich früher auch war, aber das ist nicht dasselbe wie gemein sein. Es ist das Gegenteil. Wer gemein ist, nimmt sich in Acht, plant seine Gemeinheiten. Der Nette ist einfach nett. Das kommt ganz automatisch.
Im Frühling bin ich zwölf geworden, jetzt war Herbst, und die Schule hatte wieder angefangen. Es war, als wäre überhaupt nicht Sommer gewesen.
»Was tust du, Kenny?«
Mutter richtete sich mit trübem Blick auf, als sähe sie ihr Schlafzimmer zum ersten Mal. Aber da gab es nicht viel zu sehen, ein altes Doppelbett und einen Tisch daneben, einen weiteren Tisch mit Spiegel, vor dem Mutter sich schminkte, wenn sie gegen Nachmittag aufgestanden war. Die Schminkerei dauerte mehrere Stunden.
»Ich hol dir jetzt das Wasser«, sagte ich und ging in den Flur, dann nach rechts in die Küche, nahm ein Glas aus dem Abtropfkorb, ließ so lange Wasser laufen, bis es kalt war, und brachte Mutter das Glas.
»Danke, mein Junge.«
»Ich geh jetzt raus.«
»Wohin gehst du?«
»Raus.«
»Hast du keine Hausaufgaben?«
»Nein.«
»Die Schule ist heute wohl eher aus gewesen«?«
»Nein.«
Mein Zimmer lag am anderen Ende des Flurs. Ich nannte es das Zimmer des Kriegers, schließlich war es ja das Zimmer eines Kriegers. Kriegerisch war ich schon gewesen, bevor ich Samurai wurde, aber jetzt war ich eine andere Art Krieger. Ich konnte meine Kriege selber wählen, musste mich nicht in jeden Krieg stürzen, den es gab. Wer Krieg haben wollte, für den gab es immer Krieg.
Auf einem kleinen Tisch neben dem Bett lagen meine Schwerter, mein langes Katana und mein kurzes Wakizashi. Auf Japanisch heißen sie beide zusammen Daisho, das bedeutet groß und klein, ein Samurai ist kein Samurai ohne Daisho. Groß und klein gehören zusammen.
Die Welt der Samurai war eine andere als die, in der ich geboren wurde. In dieser Welt gehörten groß und klein nicht zusammen, nur insoweit, als die Großen über die Kleinen zu bestimmen hatten, jedenfalls bildeten sich die Großen das ein.
Selten genug kann man zeigen, dass es nicht so ist. Im vergangenen Sommer hatte ich Gelegenheit, es
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