Der Sommerfaenger
Schwäche.
Die Frau, die ihm gegenübersaß, schätzte er auf Anfang dreißig. Ihr ungeschminktes Gesicht war von einer eigenwilligen Schönheit, die ihr jedoch nicht bewusst zu sein schien. Sie hatte das schulterlange braune Haar achtlos im Nacken zusammengebunden. Eine Strähne hatte sich gelöst und umspielte ihr Kinn. Ab und zu strich sie sie mit einer gleichgültigen Bewegung hinters Ohr zurück und vergaß sie dann wieder. Ihre Augen wirkten angestrengt, als hätte sie den ganzen Tag gelesen oder am Computer gesessen.
Lukes Blick wanderte zu dem gläsernen Couchtisch, auf dem dicke psychologische Fachbücher lagen. Er fragte sich, ob er dieser Frau und ihrem Lächeln trauen konnte.
Lass dich nicht einlullen. Sie ist Polizeipsychologin .
Auch sie konnte gekauft sein. Vielleicht hatte sie ihnen was in den Tee gemischt, und wenn sie erst eingeschlafen wären, würde sie Kristof die Tür aufmachen und …
Luke lächelte zurück. Dem Blick der Psychologin würde nicht entgehen, dass sich nur seine Lippen bewegten, seine Augen jedoch kalt und aufmerksam blieben. Es war ihm egal. Sollte irgendjemand auch nur versuchen, Jette anzurühren, würde er ihn erledigen, gleichgültig ob Mann oder Frau.
*
Ich vertraute ihr, und das nicht bloß, weil es der Kommissar tat. Isa erinnerte mich an Tilo. Sie hatte dieselbe ruhige Art, sich zu bewegen und zu sprechen, denselben offenen Blick, und sie strahlte die gleiche selbstverständliche Herzlichkeit aus. Möglicherweise kannten sie sich sogar von irgendwelchen Tagungen.
»Ich bin Isa«, hatte sie sich vorgestellt und uns kurz durch die Wohnung geführt, damit wir uns darin zurechtfanden.
Die Wände waren voller Bücher und Bilder, und die Möbelstücke, von denen viele alt und kostbar schienen, erzählten Geschichten. Isa wohnte offenbar allein hier. Auf dem Schild neben der Klingel hatte nur ihr Name gestanden, und auch in der Wohnung gab es nichts, was auf die Anwesenheit eines Mannes hingedeutet hätte.
Seltsamerweise war ich hungrig, dabei hatte ich geglaubt, keinen Bissen herunterzubringen. Das Essen beruhigte mich, und dass Isa auch für sich selbst ein Gedeck aufgelegt hatte, fand ich schön.
Luke war sehr schweigsam. Er beobachtete jede Bewegung, die Isa machte, und als sie einmal aufgestanden war, um Salz aus der Küche zu holen, hatte er sich halb von seinem Stuhl erhoben und die Tür nicht aus den Augen gelassen.
Seine Nervosität zeigte mir, was meine Müdigkeit mich immer wieder vergessen lassen wollte: Wir waren längst noch nicht sicher. Nicht hier und nicht woanders. Es gab keinen Ort, an dem wir aufatmen konnten, nicht bevor alles vorbei war.
»Danke«, sagte ich zu Isa. »Vielen Dank, dass Sie uns aufgenommen haben.«
»Das habe ich gern getan.«
»Obwohl wir Sie in Gefahr bringen?«
»Das muss sich erst noch herausstellen.«
Ich schaute Luke in die Augen und wünschte uns Glück. Wir brauchten es dringend.
*
Bert war froh, das Haus leer vorzufinden. Margot hatte offenbar erneut beschlossen, das gesamte Wochenende wegzubleiben. Ernüchtert stellte er fest, dass er sich weder nach ihr noch nach den Kindern sehnte, und dass es ihm gleichgültig war, wo sie sich gerade befinden mochten.
Was war bloß mit ihm los? Wann war er so gleichgültig geworden?
Er machte die Terrassentür auf, um die Hitze aus dem Wohnzimmer zu vertreiben, ging ein paar Schritte durch den mondblauen Garten und atmete tief ein und aus. Die Luft hatte sich abgekühlt und legte sich erfrischend auf sein Gesicht. Nirgendwo brannte Licht. Er war mit seinen Gedanken allein.
Bei Isa waren Jette und Luke fürs Erste gut aufgehoben. Dieses Problem konnte er in ein Paket packen und für eine Weile in einem Winkel seines Kopfs abstellen. Bevor er die übrigen Probleme in Angriff nahm, musste er nur noch Imke und Merle anrufen.
Er zog sein Handy aus der Tasche, sprach kurz mit Merle, atmete durch und wählte dann Imkes Nummer.
Sie meldete sich nach dem ersten Klingeln. Leise. Vorsichtig. Voller Angst vor dem, was er ihr gleich mitteilen würde.
»Ja?«
Ganz kurz zuckte beim Klang ihrer Stimme Freude in ihm auf. Dann wurde ihm bewusst, wie wach und konzentriert sie sich anhörte. Er hatte sie nicht aus dem Schlaf gerissen. Sie hatte auf seinen Anruf gewartet.
»Jette und Luke geht es gut«, beruhigte er sie. »Ich habe sie an einen sicheren Ort gebracht.«
Er konnte ihren befreiten Seufzer fast körperlich spüren.
»Danke«, flüsterte sie. »Vielen, vielen Dank.«
»Sie
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