Der Sommermörder
tatsächlich benahmen sie sich so gesittet, dass es fast schon beunruhigend war. Auf der Heimfahrt stieg ich eine Station später als üblich aus und ging dann zu Fuß die Seven Sisters Road zurück, vorbei an den vielen Gemüseläden und -ständen. Gleich beim Ersten kaufte ich ein Pfund Kirschen, das ich auf der Stelle verspeiste. Der säuerliche Geschmack der sauberen, saftigen Früchte ließ mich an meine Kindheit auf dem Land denken. Mir war, als würde ich plötzlich wieder unter der grünen Markise sitzen und den Sonnenuntergang bewundern. Es war kurz nach fünf, und der Verkehr kam langsam zum Erliegen.
Obwohl mir heiße Autoabgase ins Gesicht schlugen, empfand ich fast so etwas wie Fröhlichkeit. Wie üblich musste ich mich durch Unmengen von Menschen kämpfen, aber an diesem Tag schienen viele von ihnen guter Laune zu sein. Die meisten waren farbenfroh gekleidet. Meine Stadtklaustrophobie nahm erheblich ab.
Ich kaufte eine Wassermelone, die die Größe eines Basketballs und das Gewicht einer Bowlingkugel besaß.
Der Verkäufer musste vier Plastiktüten ineinanderlegen, und es war praktisch unmöglich, sie auf einigermaßen elegante Art zu tragen. Ganz vorsichtig schwang ich mir die Tüte über die Schulter, katapultierte mich dabei fast auf die Straße, und schleppte die Melone wie einen Kohlensack auf dem Rücken. Bis zu meiner Wohnung waren es nur knapp dreihundert Meter, sodass ich es aller Voraussicht nach schaffen würde.
Während ich die Seven Sisters Road überquerte und in die Holloway Road einbog, starrten mich die Leute neugierig an. Sie dachten wohl, dass ich weiß Gott was im Schilde führte: eine junge blonde Frau in einem knappen Sommerkleid, vornübergebeugt unter der Last einer Einkaufstüte.
In dem Moment passierte es. Lässt sich im Nachhinein noch sagen, was ich dabei empfand? Es war ein Moment, ein Impuls, ein Schlag, und dann war es schon wieder vorbei. Den eigentlichen Hergang der Dinge konnte ich bloß rekonstruieren, indem ich das Ganze immer wieder vor meinem geistigen Auge Revue passieren ließ, verschiedenen Leuten davon erzählte und mir von verschiedenen Leuten davon erzählen ließ. Ein Bus kam auf mich zu. Als er fast auf meiner Höhe war, sprang jemand von der Plattform am Ende des Fahrzeugs. Der Bus fuhr so schnell, wie es in der Holloway Road während der Rushhour überhaupt nur möglich ist. Normale Menschen springen nicht einfach so von einem Bus, nicht einmal die Londoner, sodass ich zunächst der Meinung war, der Mann wäre leichtsinnigerweise gleich hinter dem Bus über die Straße gelaufen, aber die Geschwindigkeit, mit der er auf dem Gehsteig aufkam und die ihn fast das Gleichgewicht verlieren ließ, sagte mir, dass er aus dem Bus gesprungen sein musste.
Dann erst sah ich, dass es sich um zwei Personen handelte, die allem Anschein nach mit Riemen aneinandergebunden waren. Die hintere Person war eine Frau, etwas älter als der Mann, aber nicht wirklich alt. Im Gegensatz zu ihm verlor sie tatsächlich das Gleichgewicht.
Es war schrecklich, mit ansehen zu müssen, wie sie auf dem Boden landete und sich überschlug. Ich sah ihre Füße unglaublich hoch in die Luft ragen, ehe sie gegen eine Mülltonne krachte. Ich sah es nicht bloß, ich hörte es auch.
Der Mann rappelte sich hoch. Er hatte eine Tasche in der Hand, die Tasche der Frau. Er hielt sie in Brusthöhe mit beiden Händen umklammert. Jemand schrie etwas. Der Mann sprintete los. Auf seinem Gesicht lag ein seltsames, maskenhaftes Lächeln, und sein Blick wirkte glasig. Er rannte direkt auf mich zu. Ich musste einen Satz zur Seite machen, um ihn vorbeizulassen, aber ich ließ ihn nicht vorbei. Stattdessen ließ ich die Wassermelone von meiner Schulter gleiten, lehnte mich zurück und schwang sie dem Mann entgegen. Hätte ich mich dabei nicht zurückgelehnt, wäre die Melone senkrecht nach unten gefallen und hätte mich mit zu Boden gerissen. So aber schwang sie kreisförmig um mich herum. Hätte sie ihre Kreisbewegung fortgesetzt, hätte ich bestimmt schnell die Kontrolle über sie verloren, aber ihr Flug fand ein jähes Ende, als sie den Mann voll in den Magen traf.
Es heißt, dass jede Art von Schläger die optimale Schlagstelle besitzt. Wenn ich als Kind Federball spielte, landete der Ball meist irgendwo am Rand des Schlägers und sprang jämmerlich zur Seite weg. Hin und wieder aber traf er genau die richtige Stelle und flog pfeilschnell zum Gegner zurück, ohne dass ich mich groß anstrengen musste.
Weitere Kostenlose Bücher