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Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Titel: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Christian Delius
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meine Schritte passten nicht zu den Takten aus dem Radio. Um an die Bücher heranzukommen, musste man erst die holzgefasste Glasscheibe vor jedem Regalteil an zwei Griffen anheben und, wenn sie waagerecht stand, nach hinten schieben, ehe man die Bücher anfassen und aufschlagen konnte. Neben Zeitschriften, Predigthilfen, Bibelkommentaren und
Karl Barth Kirchliche Dogmatik
behaupteten gewichtige Bücher ihren Platz, die mit Lederrücken hatte mein Vater von seinem Vater geerbt,
Gregorovius Wanderjahre in Italien, Hiltebrandt Der Kampf ums Mittelmeer, O. Jäger Weltgeschichte, Meyers Kleines Konversationslexikon, Ranke Fürsten und Völker von Süd-Europa, Hamann Geschichte der Kunst.
Alle die
guten Bücher
hinter den Glasscheiben reizten mich nicht, ich suchte mich abzulenken mit dem geordneten Bild aus Schrift, Farbe und Mustern, weiter unten die schwarz- oder goldgeprägten Rücken der
Gesammelten Werke Raabe, Keller, Reuter,
eine ferne und geerbte Romanwelt mit lästigen Frakturbuchstaben,
Shakespeare, Schiller, Goethe, Storm,
dann die Rücken mit neueren Umschlägen und seltsamen Titeln wie
Gollwitzer Führen wohin du nicht willst
oder
Klepper Der Vater
oder
Glasenapp Weisheit.
    Die Musik brach ab …
Sie hörten das Tanzorchester des Hessischen Rundfunks unter der Leitung von Willy Berking …
ich setzte mich wieder auf den Drehstuhl zwischen Fenster, Radio und Schreibtisch, unter den postkartengroßen Moses, unter die Familienrose, unter den römischen Triumphbogen, und war auf alles gefasst, den Sieg, die Niederlage, das ewige Unentschieden.
    Wir melden uns also wieder aus Bern …
ferne Zuschauerrufe, Lautsprecherdurchsagen, Aufregung in der Luft. Der Reporter fand sofort wieder den Ton meiner Spannung und Begeisterung, lenkte sie mit seiner Stimme aufs Spielfeld und fütterte die Ohren mit mitreißenden und beruhigenden Sätzen, nach denen ich schon süchtig geworden war …
der Außenseiter hat gleich gute Chancen …
Das Blatt hatte sich gewendet, der Außenseiter war kein Außenseiter mehr, es durfte gehofft werden auf mehr als ein Unentschieden, und ohne es direkt zu sagen, hielt der Reporter einen Sieg für möglich …
Puschkasch allein! Acht Meter vor dem Tor! …
sofort durchkreuzten die Ungarn alle verwegenen, winzigen Hoffnungsgedanken. Nein, wir durften nicht überheblich werden, die Mannschaft, ich und der Reporter, der schnell wieder zaghaft und vorsichtig sprach …
sollte auch uns daran erinnern, dass es bei aller Freude, allem Einsatz lediglich um ein Spiel geht …
Ein Spiel! Da irrte er, das wusste ich besser, es war viel mehr, ein Spiel war alles, was nicht auf die Schule bezogen oder auf Gott hingezerrt war, was man mit Freunden oder Geschwistern oder allein spielte, aber das, was ich da hörte, war viel mehr als alle Spiele zusammen.
    Zwei zu zwei, und die Ungarn stürmen …
wieder wechselten die Szenen …
blitzartig! Abgewehrt! Nachschuss! Wieder abgewehrt! … und Hidegkuti – schießt vorbei!
 … ich sah den Ball, den ich nicht sah, vor dem deutschen Tor, im deutschen Tor, zweimal, dreimal, aber …
Liebrich, immer wieder Liebrich … und Rahn zu May und May zu Eckel, Eckel zu Rahn, Applaus für den deutschen Sturm …
und wieder …
Gefahr! … auf der Torlinie gerettet … Liebrich rettet, rettet, rettet uns … eine herrliche Zusammenarbeit unserer deutschen Abwehrspieler!
    Ich spielte am liebsten Abwehrspieler, rechter Verteidiger, Kohlmeyer, aber von Minute zu Minute wurde ich immer mehr Liebrich, Mittelläufer, immer deutlicher setzte sich das Bild von Liebrich zusammen, dessen Namen ich erst seit wenigen Tagen kannte und der nun in mir aufstieg, immer bei Gefahr ging
Liebrich, der Blonde,
dazwischen, und ich, der Verteidiger, der blonde, richtete meine Neigung, meine Hoffnung immer öfter auf diesen einen Mann …
achtzehn Spieler im deutschen Strafraum …
und Liebrich rettet. Der Reporter pries
Glück und Können
der Hintermannschaft, ich war Teil dieser Mannschaft und freute mich an unserm Können, es gab da also ein Können ohne Gehorsam und Gebet, ein Können, das nicht von oben gesegnet und abgesegnet war, und es gab Glück, ganz einfach Glück ohne Wenn und Aber und Scham und ohne die störenden Angriffe eines Gewissens, ich nahm teil an diesem Glück, von dem keiner im Haus etwas ahnte, ich war verbunden mit fernen Menschen, anderen Kräften, ich holte mir trotzdem rasch ein Stück Sandkuchen und schluckte hastig die Bissen hinunter, als

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