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Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Titel: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Christian Delius
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ich nur aus der Nennung der Namen und der knappen Beschreibung des Zusammenspiels oder der Zweikämpfe den Weg des Balles und die Vorstöße der Spieler zusammensetzte, darum brauchte ich für meine Vorstellung die einzigen mir bekannten fußballerischen Bewegungen der Spieler des F.C. Wehrda und übertrug ihren Spielstil in das Berner Stadion. Deutschland und Wehrda waren sich ähnlich, der ehemalige Meister der A-Klasse trug auch weiße Hemden, allerdings grüne Hosen statt schwarzen, die Spieler aus Steinbach, Eiterfeld oder Hünfeld waren die Ungarn, ich sah den Wehrdaer Sportplatz endlos horizontal verlängert über die hessischen Berge und Wälder bis in die Schweiz hinunter. Der Himmel schüttete seinen gnädigen Regen über die Spieler hinab,
das Fritz-Walter-Wetter
hielt an, aber sonst hatte der Himmel, hatten Vater, Sohn und Heiliger Geist hier nichts zu bestellen, hier flehte niemand nach oben, hier war nichts bestimmt oder vorherbestimmt, hier funkte keiner aus der Hierarchie Gott, Vater, Mutter und Großvater dazwischen. Hier schaute ich ins Weite, nach vorn, und hier regierte nicht einer, sondern ein Team mit einem Kapitän, einem ganz anderen Kapitän als mein Großvater im U-Boot, hier waren elf Mann mit
enormer Einsatzfreude dabei,
alle mussten gut sein, alle waren aufeinander angewiesen, keiner durfte
abseits
stehen, das Prinzip des Gehorchens oder Fügens oder Anpassens oder Wegtauchens galt hier nicht, es zählten nur die hellwache Lebendigkeit eines
Dribbelkönigs
und der Spieler mit
Dynamit in den Füßen.
    Trotzdem wusste ich, dass alle Anstrengung vergeblich war, die Niederlage am Ende stand fest wie die Macht der Ungarn, der Ungeschlagenen …
einundzwanzig Spieler in der deutschen Hälfte …
ein Gegenangriff, Erholung …
jetzt ein Angriff der Ungarn, Turek heraus, Nachschuss Hidegkuti! – Toni, Toni, du bist Gold wert, du bist mindestens so schwer in Gold aufzuwiegen wie der Coup Rimet …
Gold, echtes Gold, Geld, Reichtum, wieder ein anstößiger Vergleich, ein Mensch goldgleich, was für eine Sünde, so zu denken, so etwas laut zu sagen, was hatte das Spiel mit Gold zu tun, nach Gold und Geld durfte ich nicht streben,
eher ein Kamel durch das Nadelöhr als ein Reicher in den Himmel,
Geld war der Anfang des Weges zur Hölle, die Verführung, Materialismus. Gold war im Märchen, in den Ringen, in Zähnen erlaubt, alles andere führte direkt zum
Goldenen Kalb,
das die Israeliten angebetet und umtanzt hatten, statt auf Moses und Gottes Gebote zu warten. Nun wurden meine Helden schon in Gold aufgewogen, ich versuchte mir das vorzustellen, um meine Verwirrung besser zu fassen: eine Waage, ein Goldhaufen, glücklich goldglänzende Gesichter in der Sonne, das Bild blendete.
    Plötzlich sagte er …
noch zehn Minuten …
jetzt zählten die Sekunden, und das Tempo, das Hin und Her steigerte sich wieder, die Reporterstimme überschlug sich, und wieder Hidegkuti, und wieder Fritz, und wieder ein Eckball für Deutschland …
unser Fritz läuft an, halten Sie die Daumen zu Hause! Halten Sie sie, und wenn Sie sie vor Schmerz zerdrücken, jetzt ist es egal, drücken Sie! …
und wieder nichts, und wieder Eckel, und wieder Hidegkuti, und wieder Puschkasch, und wieder Hidegkuti, und wieder Todt, und wieder Kotschitsch und Puschkasch, und …
Kopfabwehr von Liebrich, immer wieder Liebrich …
und wieder Applaus, und Rahn und Ottmar, Fritz und wieder Schäfer, Morlock, Zakarias, und wieder Puschkasch, und wieder Eckel, und Freistoß, und wieder Gefahr, und wieder Kotschitsch, aber Turek, und
die deutsche Angriffsmaschine,
und wieder Lorant und …
sechs Minuten noch, keiner wankt, der Regen prasselt unaufhörlich hernieder, es ist schwer, aber die Zuschauer, sie harren aus, wann sieht man ein solches Endspiel, so ausgeglichen, so packend …
Ich harrte aus, ich ertrug die Spannung nicht mehr, das Ergebnis war mir fast egal, Hauptsache, die Strapazen des Spiels in ein paar Minuten vorbei …
Schäfer, nach innen geflankt, Kopfball, abgewehrt, aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen, Rahn schießt! Tor! Tor! Tor! Tor! Tor für Deutschland!
    Während die schreiende, elektrisierte Stimme fast das Radio auseinanderriss, das versteckte Metall in dem Kasten von den Torschreien vibrierte und der Stoffbezug vor dem Lautsprecher zitterte, während das Gerät in allen Fugen knisterte und der Reporter schwieg wie erschossen, drangen aus dem Hintergrund Schreie, von Händeklatschen und Jubel

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