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Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Titel: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Christian Delius
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SPIRITUS  /  PASCE PASTOREM  /  DUC DUCEM  /  APERI APERTURO  /  DA DATURO prangte in gespreizter Schönschrift unter dem Kreuz, ohne dass der Heilige Geist dazwischengefahren war, die dicke HEILIGE SCHRIFT lag wie ein schwarzer Kindergrabstein auf dem grünen Filz des Schreibtischs, und als der Reporter von unserem
Schutzengel
sprach, rührten sich die Musikengel über dem Klavier so wenig wie der Engel der Verkündigung gegenüber an der Wand, der steif vor der knienden Maria im Säulengang die segnenden Hände hob. Immer besser gefiel mir die Lästerung, und in diesen Minuten rückte ich ab von der dreieinigen Besatzungsmacht Gott, Jesus und Heiliger Geist und begann an einen
Fußballgott
und Außenseitergott zu glauben, und nicht nur an einen, denn wenn Turek ein
Fußballgott
war, dann mussten die anderen zehn auch so etwas wie Götter sein.
    Unentschieden ging es in Bern hin und her …
an den Pfosten, an den Pfosten! Turek war schon geschlagen …
und im schnellen Spiel mit überraschenden Wechseln vom einen in den anderen Strafraum klammerte ich mich weiter an die Namen, die der Reporter nannte,
Kohlmeyer, Posipal, Ottmar Walter,
die gerade den Ball führten, schossen, köpften, stoppten, hielten. Ich atmete auf, wenn die guten Namen fielen,
Eckel der Windhund, May mit einem Kämpferherzen ohnegleichen, Rahn aus Essen, Fritz ist überall,
während ich bei den ungarischen Namen zuckte und das Schlimmste erwartete von
Puschkasch, Hidegkuti, Lorant, Butschanski, Zakarias,
jeder dieser zischenden, tückischen Namen schmerzte wie ein Stich …
wieder die Ungarn … die Ungarn sind am Drücker … die Ungarn mit aller Macht.
    Ich lehnte mich zurück im Stuhl, drehte zum Schreibtisch mit Telefon, Tintenfass, Füllhalter, Bleistiften, Rotstiften und Briefen …
ein ungeheures Tempo …,
nahm den Brieföffner in die Hand, ohne es zu merken, hielt den Elfenbeingriff, suchte meine Gegner, drehte mich nach allen Seiten, sah Kreuze und Engel und Jesus und Moses und das große Foto gerahmt mit dem Portal der Kathedrale von Chartres …
wundervolle Kombination der Deutschen …
und legte den Brieföffner zurück. In meiner Spannung wollte ich durchs Zimmer gehen, am Bücherregal entlang, zum Sofa in der Ecke oder um die Festung Schreibtisch herum, aber ich blieb auf dem Platz, von dem die väterliche Gewalt ausging, von dem aus er die Gemeinden in vier Dörfern regierte, ich konnte nicht weg vom Gerät, aus dem meine frohe Botschaft kam. Die Stimme hatte mich wieder nah an den Lautsprecher gezogen, unter dem Radio das
Stuttgarter Biblische Nachschlagewerk,
das
Evangelische Kirchenlexikon,
Predigthilfen, Kommentare, Aktenordner, das Werkzeug des Vaters, der schlief oder schon nicht mehr schlief, ich wusste die Uhrzeit nicht, es zählten nur die Spielminuten …
sechs Minuten noch, zwei zu zwei, das ist mehr, als wir in unsern kühnsten Träumen erwartet haben.
    Über dem Radiogerät der Triumphbogen, ein Kupferstich aus Rom mit einer Szene am Rand des Forums …
ein einmaliger Tag in unserer Fußballgeschichte … und jetzt wieder Deutschland …
ich wollte jetzt nicht an Rom denken, musste aber in der wachsenden Aufregung meinen Blick irgendwo anbinden, Rom war viel weiter als Bern, das Bild bewegte sich nicht,
Veduta dell’Arco di Settimio
stand darunter, ein halb versunkener Triumphbogen vorn und eine endlose Treppe im Hintergrund, wenige, winzige Menschen, ein Esel, keine Farbe, trotz feiner Striche eher düster und leer, beherrscht von hohen Gebäuden mit dunklen Wänden, schwarzen Türlöchern, eine Steinwelt …
Schäfer müsste schießen! Abgewehrt! Und Nachschuss! Abgewehrt!
 … ich verstand nicht, weshalb mein Vater seine Erinnerung an Rom gerade an dieses Bild heftete …
liebe Ungarn, jetzt müssen wir sagen, jetzt habt ihr Glück gehabt! Kinder, Kinder, Kinder, zwei Minuten vor Halbzeit die mögliche Führung für Deutschland!
    Der Reporter dachte auch an mich, dachte an die Kinder, und es war mir egal, ob das nur eine Redensart war, er bezog mich ein, er wusste, wie ich fühlte und was ich hoffte, besser jedenfalls als die Tante Jo vom
Kinderfunk im Hessenlande
und das
Heißa und da sind wir immer froh,
jetzt war ich, in Spannung verkrampft, wirklich froh, geführt von einer Stimme, die das Spiel zu mir brachte und mich mitspielen ließ. Was ich hörte, wärmte mich, anders als die Vaterstimme, von innen, es schien mir, als sei alles, was mich blockierte, gelockert, als dürfe ich hier

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