Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde
ohne zu gerinnen
vergossen
wurde, quälte mich nur, es machte den Körper leer, schlaff, bleich, tot, Christus quälte mich mit seinem Blut, es floss aus seinem Körper, aus dem Körper des Bluters, aus meinem Körper, es floss in den Raum, es floss mir entgegen, es war gegen mich, das Blut warf mich um, ich konnte nicht schwimmen und ertrank im Bild vom fließenden Blut, ich konnte kein Blut sehen und war schon öfter umgefallen, als ich Blut sah, ich fühlte meine Schwäche und wollte nicht umfallen, in der Schule schon gar nicht, ein stolzer Sextaner, ein Lateiner auf der Alten Klosterschule, der Schule von Konrad Duden, du fällst schon auf wegen deines Schweigens und Stotterns, du fällst schon auf wegen deiner Schwäche in fast allen Fächern, fall nicht auf, du darfst nicht umfallen, ich wollte nichts hören vom Blut, jedes neue Wort über diesen Bluter tat mir weh, jede Silbe machte mich schwächer, als zapfe mir jemand mit Gewalt das Blut ab, als sei ich der Bluter oder noch schlimmer dran als der Bluter, weil mir allein von dem einfachen, einsilbigen Wort Blut schwach wird, einer, der seine Bilder im Kopf nicht gerinnen lassen kann und deshalb ohnmächtig wird, ich fühlte den Kopfschmerz, die Kopfleere, und sah keinen Ausweg, traute mich nicht, meine Schwäche zu zeigen und die Schulbank, den Raum zu verlassen, hinaus in den Schweiß- und Bohnerwachsgeruch des Flurs, hinaus in den Hof, immer versuchte ich wegzulaufen, wenn ich kein Blut sehen und riechen wollte oder keine schlimmen Krankengeschichten hören, jetzt wollte ich stark sein und einmal den Kampf gewinnen gegen das Blut, aber wieder fragte einer, wieder holte der Lehrer aus, ich hörte weg, hielt die Ohren zu und versuchte, mich in andere Phantasien zu retten und fortzulaufen, dachte an das Eis für zehn Pfennig an der Sportschenke vor der Abfahrt des Busses, aber das Blut hatte mir jeden Appetit genommen, dachte an blühende Kirschbäume auf blühenden Wiesen und fühlte trotzdem das Blut in mir pochen und zugleich immer weniger werden und fühlte die Scham, dass mir von einer bloßen Geschichte aus der Zeitung schlecht wurde, und die Scham, so ein verkrampftes, unglückliches Verhältnis zu dem Stoff zu haben, der mir, der allen durch die Adern, durch den Körper floss und mich und alle am Leben erhielt, die Wunde schloss sich nicht, die Wunde blieb offen, es tropfte und quoll und floss immer weiter, meine Adern waren leer, meine Beine, Arme, der ganze Leib immer schwerer und schlaffer, und der Kopf glitt leicht wie ein Ballon abwärts, während die Bilder kippten –
und ich wachte auf vom Stimmengewirr, mein Blick wachte auf im Gartengrün, ich stand am offenen Fenster, der Lehrer und zwei Mitschüler hielten mich fest, der Lehrer sagte: «Tief durchatmen!», und war erleichtert, dass ich aufwachte, und hinter mir, neben mir dreißig Jungen mit aufgeregten Stimmen: ich stand in der Mitte, atmete die frische Luft ein und war die Sensation des Tages.
«Schon vorbei, dein Fußball?», fragte der Vater. – «Nein, Halbzeit. Unentschieden steht es! Unentschieden, zwei zu zwei!» – «Na doll!» Sein Tonfall überzeugte mich nicht ganz, aber ehe ich herausgefunden hatte, ob er das Unentschieden wirklich für eine Sensation hielt, erschrak ich über mich: ich hatte plötzlich «zwei zu zwei» gesagt, hatte die schwierigsten Wörter über die Zunge gebracht ohne zu stottern. Ich wusste nicht, ob mein Vater das gemerkt und mit «Na doll!» vielleicht mich gemeint hatte, ich war so verwirrt über meine Leistung, dass ich schnell vom Bad ins Amtszimmer zurücklief.
Aus dem Radio schwappte Tanzmusik, nebenan im Wohn- und Esszimmer deckte die Mutter den Kaffeetisch. Ich hätte die Lautstärke erhöhen können, die Mittagsschläfer waren aufgestanden, aber ich ließ die Musik leise spielen, die schnellen, flotten Klänge waren mir fremd, passten nicht hierher, passten nicht zu diesem Radio, das nur kirchliche Sendungen oder
Die Glocken läuten den Sonntag ein,
den Kinderfunk und manchmal ein Sinfoniekonzert ausstrahlte. Hier regierte das Wort, und selbst das Klavier, das neben der Flurtür wuchtig in der Ecke stand, wurde zu nichts anderem gebraucht als zur Begleitung der Worte beim Singen, als seien die Tasten in den Kirchenfarben Schwarz und Weiß nur für Kirchenlieder geschaffen von Felix Holzweissig aus Leipzig.
Ich wollte noch nicht sitzen und lief vor dem Bücherregal auf und ab, wartete auf die zweite Halbzeit, auf das Ende der Musik,
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