Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde
das Ergebnis und das Wort «Gewonnen!» stammeln konnte.
Der Reporter beschrieb die Szenerie auf dem Spielfeld, wie die Zuschauer, die Fotografen und die Mannschaften reagierten, die Ungarn
gefasst
als Verlierer und die Deutschen gefeiert …
unser Stolz, unsere Freude und unsern ganz innigen Dank den elf Spielern im weißen Jersey und den schwarzen Hosen, die jetzt zur Gegentribüne hinüberlaufen und die deutsche Schlachtenkolonie begrüßen …
Mich hielt es nicht mehr auf dem Stuhl, ich wollte meinen Stolz, meine Freude, meinen Dank in die Welt, ins Haus, ins Dorf hinausrufen und konnte mich doch vom Radio nicht trennen, wollte wissen, was weiter dort geschah, wo der Jubel herkam …
die Fahnen schwarz rot gold sind drüben im weiten Rund zu sehen, und auch wir sind ergriffen …
und auch ich war ergriffen, ein Schauer im Rücken ließ den Körper aufzittern, ich wischte die Tränen weg, wollte meine Freude zeigen und wusste nur nicht wem, ich fühlte deutlich, dass es mir für fast zwei Stunden gelungen war, dem sonntäglichen Alarmzustand, dem Vaterkäfig, den unsichtbaren Gottesfallen entronnen zu sein, und wusste, dass diese Ausnahmezeit, in der ich meine Makel vergessen konnte, irgendwann zu Ende ging, ich wollte den paradiesischen Zustand möglichst erhalten, also schnell hinaus zu meinen Freunden und Fußballfreunden laufen, deren Herzen ebenso
ergriffen
sein mussten wie meins.
Wir wollen auch in diesem Augenblick nicht vergessen, dass es ein Spiel ist, ein Spiel, aber das populärste Spiel, das die Welt kennt …
es war längst kein Spiel mehr, denn ich war, was ich schamhaft und heimlich gewünscht hatte, ich war zum Weltmeister geworden, und das wollte ich mir nicht nehmen lassen durch Beschwichtigungen …
die Spieler gebärden sich, als ob sie ein Schloss gewonnen hätten
… ich hatte mehr gewonnen, mir liefen Tränen, Siegerehrung, eine Greisenstimme sprach im Hintergrund gegen den Jubel, der Reporter redete darüber hinweg …
der stolze Triumph unserer deutschen Weltmeister … Höhepunkt …
nannte noch einmal die Namen der Spieler, des Bundestrainers, ich wurde ruhiger …
ich kann mir vorstellen, wie Sie in der Heimat Anteil nehmen werden … jetzt erfolgt die feierliche Übergabe des Pokals an Fritz Walter, den Kapitän der deutschen Weltmeistermannschaft …
Fritz zeigte den Pokal, den ich nicht sah, die Hymne wurde gespielt, ich hörte
Deutschland, Deutschland, über alles
mehr geschrien als gesungen, ich verstand die Worte nicht genau, weil offenbar zwei Fassungen gleichzeitig gesungen wurden, die verbotene erste und die erlaubte dritte Strophe, vor wenigen Tagen erst, vor der Feierstunde zum 17 . Juni war uns beigebracht worden,
Einigkeit und Recht und Freiheit
zu singen und nicht
Deutschland, Deutschland, über alles,
deutlich verstand ich
brüderlich zusammenhält
und die miteinander aufsteigenden Stimmen
über alles in der Welt,
ein dumpfer Jubel in der Wiederholung aus befreiten Kehlen,
Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt,
ehe der Gesang in wildes, lautes Johlen ausuferte, das nach
Ej!
oder
Ja!
oder
Heil!
klang, und Beifall und Schreie waren noch nicht vorbei, als die andere Reporterstimme, die in der ersten Halbzeit die ersten Sätze gesprochen hatte, erregt und wie in Angst vor einer neuen Jubelwelle rasch die Abschiedsworte sagte …
Hier sind alle Sender der Bundesrepublik Deutschland … Reporter war Herbert Zimmermann. Die Sendung ist beendet. Wir schalten zurück nach Deutschland.
Unter den Linden, auf dem Kirchplatz, auf dem Mäuerchen, drei Stufen über den Straßen, die hier zusammenliefen, stand ich und schaute, während die Takte der Hymne in mir weiterschlugen, in alle Richtungen, Wege und Höfe und hoffte, dass meine Freunde nach dem Ende der Übertragung aus den Haustüren stürmten und andere Leute suchten, um sich und
uns
als Weltmeister zu feiern. Ich war der Erste, hatte den kürzesten Weg, stand im Zentrum, hier mussten die Fußballfreunde zusammentreffen, hinter mir Kirche und Pfarrhaus, wo kein Platz war für meine Erregung, vor mir und um mich herum das Dorf, die offene Welt.
Wie nackt stand ich da in meinem Siegesgefühl, allein unter den niedrigen Ästen der Linden, und wartete ungeduldig, entdeckt zu werden mit meiner blanken, springenden Freude. Ich schämte mich nicht, im Gegenteil, ich genoss den berauschenden Moment: die Reporterstimme klang im ganzen Körper nach, und der Sieg stieß mich in einen Zustand des
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