Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde
Geschichten aus dem vergangenen Krieg, wie oft da ein Stück Brot und allein das Brot und immer die letzte Hoffnung, die Rettung ein trockener Kanten. Das Brot machte satt und zerstörte etwas, das Brot fraß am Herzen, fraß an der Zunge, das Brot drückte etwas nieder in mir, das Brot trennte uns und hielt uns zusammen.
Auf der Kabapackung aber blühten die Palmen, leuchtete gelb die Wüste, ich fand es erleichternd, dass der Kakao zu Jesuszeiten unbekannt war und in keinem Gebet genannt wurde, also ohne verdrückte Andacht getrunken werden konnte, ich sehnte mich fort zu den Plantagen, träumte von einer Mahlzeit mit lauter Lebensmitteln, die nicht von Gottes Gnade vergiftet waren, und nahm die dritte Scheibe.
Hilfesuchend sah ich zur Mutter hinüber, sie hätte den vernichtenden Heiligenschein um das Graubrot löschen können. Sie fand meinen Blick, weil sie immer wieder in die Runde lächelte, aber sie schaute nicht so, wie ich es erhoffte, mit einem Lächeln, einem freundlichen Witz der Erlösung. Vielleicht war ich so verwegen, etwas von der Güte, mit der sie die kranken Kinder umsorgte, und von der tröstenden Wärme zu erwarten, die sie abends beim Beten und Singen ausstrahlte, wenn sie mit den Melodien der Nachtlieder den innigen, liebevollen Ton einer Geborgenheit traf, und vielleicht warf ich ihr vor, dass sie am Tag beinah regelmäßig diese Stimme verlor, die ich für ihre wahre Stimme hielt. Ich schaute zu ihr hin und meinte zu spüren, wie das Brot uns trennte, wie der Abstand zu ihr wuchs und sie nichts davon zu merken schien, ja wie sie selber den Abstand vergrößerte, wenn ihr leise kontrollierender Blick einmal von einem Lächeln abgelöst wurde und dieses Lächeln in meine Richtung ging. Mit dem Lächeln aber meinte sie nicht mich, jedenfalls nicht mich allein, weil sie im strengen Streben nach Güte erstarrte, im Verteilen, im Vierteilen ihrer Liebe gegen kein Kind ungerecht sein und
die Freude
an ihren vier Kindern gleichzeitig allen zeigen wollte. Sie schien nicht zu merken, welche Nahrung ich mehr brauchte als das Brot, ihre Stimme, ihre Augen, eine Umarmung. Unter dem Hals blinkte die Brosche, funkelte schwarz das in Bernstein erstarrte Insekt. Ihr Blick hob den stummen Dialog nicht auf und ließ mich mit der Frage allein, ob die Augen dahinter mir so wohl gesonnen waren wie sie taten. Die Sprache hätte helfen können, aber da die Muttersprache mich nicht erreichte, suchte ich den Fehler bei mir, fühlte mich taub, sprachlos, stumm. Ich erwartete vielleicht nur ein sanftes, liebkosendes, berührendes Funkeln in den Augen oder erwartete es schon nicht mehr und musste zusehen, wie alle ihre Gesten, Blicke, Worte auf halbem Weg steckenblieben, zusammengefroren in der Botschaft: alles ist gut, wir haben satt zu essen und können und müssen dafür dankbar sein in jeder Minute.
Wenn sie sich löste aus ihrer Demut und endlich sprach, dann mit großen Pausen, langsamen Sätzen, als müsse sie jedes Wort, jeden Satz erst prüfen, ehe sie ihn laut sagen dürfe, als sei eine alte Angst, mit ein paar Worten etwas falsch zu machen, nicht überwunden, als stehe ihr Vater, der vom Kaisertum zum Christentum konvertierte U-Boot-Kapitän a.D. und Volksmissionar, mit seinen kontrollierenden Blicken immer noch hinter ihr auf der Kommandobrücke oder als esse er mit am Tisch oder blicke auf uns herab. Er wohnte eine Etage über uns, das Großelternzimmer lag, von einer zugestopften Tür getrennt, neben dem Schlafzimmer der Eltern, und wenn er nicht auf Vortragsreisen in Gemeindesälen und Zelten sein karges Gehalt mit der Werbung für Gott erpredigte, war er gegenwärtig mit lauter Stimme, kritischem Blick, witziger Freundlichkeit und einem verschmitzten Lächeln in den Mundwinkeln. Der kleine Mann trug seinen Adelsnamen vor sich her wie einen Orden, seine Familie hatte bessere Zeiten gesehen und schlechtere, aber alles war
Fügung
und
Gottes Güte.
Er zog es vor, von Gott als dem
Herrn
zu sprechen, als höchste Tugend galt der
Gehorsam.
Viele versenkte Schiffe beschwerten sein Gewissen, und wenn er mich weinen sah, befahl er:
Schlucks runter!,
und auch wenn ich weinte und er nicht in der Nähe war, hörte ich seinen soldatischen Ton
Schlucks runter!
Vielleicht hatte er schon meiner Mutter und ihren fünf Geschwistern diesen Befehl gegeben. Die Großeltern weinten nicht, aber sie trauerten dem verlorenen Bad Doberan nach, Mecklenburg war ihnen geraubt, seit Heinrich dem Löwen war man Mecklenburger
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