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Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde

Titel: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Christian Delius
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gewesen, und nun fürchtete der Großvater die Gottlosigkeit der modernen Zeit, gegen die nur die
Heilige Schrift,
die
Frankfurter Allgemeine
und das
Adelsblatt
halfen. Die Großmutter widersprach ihm manchmal, meine Mutter nicht. Laut lachen konnte er und Gedichte reimen, der Kapitän und Missionar, aufrecht auf dem Schiff des Glaubens durch das Meer des Unglaubens steuernd, mit trotziger Stimme singend gegen die Stürme.
    Ich sah meine Mutter schlucken, sah sein Gesicht in ihrem Gesicht, seine Lautstärke gespiegelt in ihrer Stille. Sie tat alles, um gut zu sein und
das Gute
dankbar zu tun und ihre fünf Rollen als Mutter, Ehefrau, Tochter, Pfarrfrau und Lehrerin des Hausmädchens so zu beherrschen, dass niemand im eng bewohnten Haus verärgert wurde und alle
zufrieden
waren. Während sie schwieg, plante sie, dachte an die Geschäftigkeiten des Sonntags, die vor ihr lagen, Kindergottesdienst, Mittagessen, Beurteilung der Predigt.
    Plötzlich sprach sie, erinnerte an die Groschen für die Kollekte beim Kindergottesdienst. Ich antwortete, kurzentschlossen: «Ich will heute lieber mit dir in die Kirche.»
    Sie stimmte zu, lächelte, ein schnelles Leuchten in den Augen unter der hohen Stirn und den dunklen, gescheitelten Haaren, sie nahm mich gern hin und wieder zum Gottesdienst der Erwachsenen mit. Ich kaute den letzten Bissen, die Rinde, fragte, ob ich aufstehen dürfe, und ging.

Ich war ein Fisch und schon gefangen, als ich merkte, dass ich ein Fisch war: der Angelhaken im Mund zwischen Zunge und Gaumen, der Widerhaken im Fleisch nahe der Luftröhre, solange ich denken konnte, die Wunde um das spitze Metall im Hals war ein Beweis, dass die Verbindung zwischen mir und der Welt gestört war. Nicht immer wollte ich mich damit abfinden, aber wenn ich, im Voraus durch die erwartete Niederlage verkrampft, den Haken loszuwerden versuchte, zappelte ich am ganzen Leib, schüttelte den Kopf, den halboffenen Mund, ich würgte und schob und zog und wurde den Haken nicht los und riss ihn tiefer ins Fleisch. Der Haken hinderte mich am Atmen, am richtigen Atmen, ich kam aus dem Takt und vergaß meinen Atemrhythmus, bis ich nicht mehr wusste, mit welchem Organ ich Luft holen, Luft ausstoßen sollte, ob ich Lungen oder Kiemen hatte, wo meine Kiemen auf der Haut saßen und ob meine trockene, verschorfte Haut überhaupt Luft durchließ. Es tat weh, ohne Luft zu sprechen, und ich wusste nicht, ob ein Sprechen ohne Schmerzen, ohne den Riss im Zungenfleisch jemals möglich war. Ich lehnte es ab, den Schmerz als Schmerz zu fühlen, ich sagte mir: das ist normal, der Fehler liegt allein bei dir. Ich wusste nicht, wer mich an der Angel hatte, ich hatte keinen bestimmten Verdacht, nicht einmal gegen die, die ich zu lieben hoffte und die mich ihrer Liebe versicherten. Ich hörte von den Eltern aber das Gleichnis oder den Satz von Jesus dem Menschenfischer, der wollte Menschen fischen, Menschen ins Netz holen für seine Gemeinde, für den Glauben an ihn, für die Erlösung, und ich war schon so gefangen, dass ich nicht schrie über das Bild: Jesus wollte auch mich fischen, mich angeln oder im Netz aus meinem Element holen und ersticken lassen in der Luft, und ich dachte nur, was will er von mir, diesem kleinsten der Fische, ausgerechnet von mir, dem Kind.
Lasset die Kindlein zu mir kommen,
aber ich war ja schon bei ihm, in fast allen Räumen, in denen ich mich bewegte, war er sichtbar auf Bildern und Kreuzen unsichtbar anwesend und gab keine Ruhe, er wollte mich in seinen Netzen fangen oder hatte mich schon gefangen, ich sollte mich fangen lassen, war nicht im Netz, hing an der Angel, diesen Unterschied spürte ich genau, der Widerhaken riss in der Zunge, riss den Leib auseinander, trennte den Kopf vom Körper.
    Im Netz wäre es vielleicht angenehmer gewesen trotz der Enge, mit mehr Nähe und Berührungen von andern Gefangenen, ich war aber allein, ich hing an der Angel und wusste nicht, wie lang die Angelschnur war und wie groß der Haken im Mund, ich zerrte und schlug und schnappte, mal war die Leine länger, mal kürzer, mal konnte ich sie vergessen und den Widerhaken im Mund vergessen, so ging es Jahre, und ich wurde stumm wie der Fisch und wurde der Fisch, mir wuchsen Schuppen an Ellbogen und Knien und Knöcheln, jede Turnstunde, jeder Sommer brachte den Beweis ans Licht: der hat Schuppen, der hat die Flechte. Wo einmal die Flechte war, konnte sie weiter wachsen, konnte die Arme, die Beine, den restlichen Leib erfassen und nach und nach

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