Der Spiegel der Königin
mussten sie Lovisa nicht, aber sobald das Schiff in Sicht kam, gab Elin ihr die Hand, die Lovisa ergriff wie ein Ertrinkender das Seil.
»Ich muss verrückt sein«, murmelte Lovisa immer wieder vor sich hin.
Von weitem konnten sie sehen, wie ihre Ledertruhen und zwei silberbeschlagene Kisten an Bord verladen wurden. Enhörning tänzelte, als er in den Frachtraum unter Deck geführt wurde. Und während sich das Schiff, das sie über die Ostsee bringen würde, mit Passagieren und Handelsgütern füllte, wurde nicht weit von ihnen ein anderes Schiff entladen. Für die Krönungsfeierlichkeiten, die im Sommer stattfinden sollten, trafen bereits die er s ten Lieferungen ein. Feuerwerk wurde an Land g e schafft.
»Also los«, flüsterte Lovisa. »Lassen wir die Gräber endlich hinter uns!« Hand in Hand betraten sie und Elin das Schiff. Die Hofdame war blass und schwitzte. An Deck angekommen, klammerte sie sich hilfesuchend an die Reling. Henri gesellte sich zu ihnen und legte seine Arme um Elin. Vor ihnen erhob sich Tre Kronor – der alte Drache aus Stein mit unzähligen Fensteraugen, in denen sich das Morgenlicht spiegelte. Irgendwo im Schloss wurde bereits am Triumphbogen für die Kr ö nungsfeierlichkeiten gebaut.
Elin ließ ihren Blick über die Mauern schweifen und suchte nach dem Fenster, aus dem Kristina und sie oft auf den Hafen geschaut hatten. Sie war sich sicher, dass die Königin dort oben stand und zu ihr hinunterblickte. Noch einmal atmete sie tief durch, bevor sie Stockholm endgültig den Rücken kehrte und das Wasser betrachtete. Die Zukunft lag vor ihr wie eine mit glitzerndem Schnee bedeckte Ebene – unberührt und voller Verheißungen neuer Wege, die es darunter zu entdecken galt. Neue Länder, neue Studien, neue Herausforderungen erwart e ten sie. Sie würde dem lutherischen Glauben abschwören und in einer Kirche aus Granit heiraten. Gemeinsam mit Henri würde sie die Segeltuchwebereien seiner Familie ausbauen. Und irgendwann, in einem vergessenen Wi n kel, würde sie vielleicht eines Tages eine Scherbe des zerbrochenen Spiegels finden und darin Kristinas L ä cheln sehen.
Nachwort
Kristina wurde im Jahr 1650 gekrönt, dankte jedoch vier Jahre später ab. Wie es ihr Wunsch gewesen war, folgte Karl Gustav ihr auf den Thron. Bald darauf verließ sie Schweden und trat zum katholischen Glauben über. Sie starb in ihrer Wahlheimat Rom am 19. April 1689.
Der Philosoph Rene Descartes verstarb am 11. Februar 1650 in Stockholm. Als Todesursache wird bis heute eine »verderbliche Lungenentzündung« angegeben. Doch schon am Tag seines Todes verbreitete sich in Stockholm das Gerücht, der Gast der Königin sei ermordet worden. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass Kristinas Leibarzt, Doktor van Wullen, tatsächlich einen verschlüsselten Brief mit dem im Roman beschri e benen (und für eine Arsenvergiftung typischen) Kran k heitsverlauf an den befreundeten Arzt Dr. Willem Piso schickte.
Ich habe die These von einer möglichen Vergiftung als Gedankenspiel aufgegriffen und mich bei der Beschre i bung von Descartes ’ letzten Lebenstagen auf den Inhalt dieses Schriftstücks bezogen. Der Originalbrief ist im Buch »Der (Mord-) Fall Descartes – Eine kriminol o gisch-medizinische Untersuchung« von Dr. Eike Pies in voller Länge abgedruckt.
Viele von Kristinas Kommentaren zum Leben und zur Liebe, zum Krieg und dem Geschlecht der Seele sind aus ihren Memoiren und dem von ihr verfassten Schatz an Aphorismen entlehnt.
Und zum Schluss noch ein Hinweis für die Stadtkund i gen: Die im Roman angesprochene Insel »Skeppsholm« ist heute der Stadtteil Blasieholm bzw. Blasieholmen. Damals befand sich darauf die Werft.
Nina Blazon, Jahrgang 1969, wuchs in Neu-Ulm auf und studierte in Würzburg Slawistik und Germanistik.
Nach dem Studium unterrichtete sie an mehreren Un i versitäten und absolvierte ein Redaktionsvolontariat. Heute lebt sie mit ihrem Mann in Stuttgart und schreibt als Journalistin unter anderem für die Stuttgarter Zeitung. Ihr Romandebüt »Im Bann des Fluchträgers« wurde im Jahr 2003 mit dem Wolfgang-Hohlbein-Preis ausg e zeichnet. Für die Recherche zum Roman »Der Spiegel der Königin« reiste sie nach Stockholm und begab sich dort auf die Spuren der rebellischen Barockkönigin.
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