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Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ende
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dumpfer Zorn.
    «Das Geld vermag alles!» rief der Prediger, «es verbindet die Menschen miteinander durch Geben und Nehmen, es kann alles in alles verwandeln, Geist in Stoff und Stoff in Geist, Steine macht es zu Brot und schafft Werte aus dem Nichts, es zeugt sich selbst in Ewigkeit, es ist allmächtig, es ist die Gestalt, in der Gott unter uns weilt, es ist Gott! Wo alle sich an allen bereichern, da werden am Ende alle reich! Und wo alle auf Kosten aller reich werden, da zahlt keiner die Kosten! Wunder aller Wunder! Und wenn ihr fragt, liebe Gläubige, woher kommt all dieser Reichtum? Dann sage ich euch: Er kommt aus dem zukünftigen Profit seiner selbst! Sein eigener zukünftiger Nutzen ist es, den wir jetzt schon genießen! Je mehr jetzt da ist, desto größer ist der zukünftige Profit, und je größer der zukünftige Profit, desto mehr ist wiederum jetzt da. So sind wir unsere eigenen Gläubiger und unsere eigenen Schuldner in Ewigkeit, und wir vergeben uns unsere Schulden,' Amen!»
    «Aufhören!» schrie der Feuerwehrmann und klomm die Treppe der Kanzel hinauf. «Schluß! Aus! Hört sofort auf! Das alles ist völlig unverantwortlich, was hier los ist. Ich untersage die Fortsetzung der Veranstaltung! Alle Anwesenden werden dringend aufgefordert, das Gebäude zu räumen. Es besteht höchste Lebensgefahr ...»
    Es war plötzlich totenstill in der riesigen Schalterhalle.
    «Ein Ungläubiger!» rief einer der Halunken am Altar. «Wie kommt hier ein Ungläubiger herein?»
    «Haben Sie Aktien?» schrie ihn der Prediger an.
    «Das ist jetzt vollkommen gleichgültig!» brüllte der Feuerwehrmann zurück, «nehmen Sie doch Vernunft an - in Ihrem eigenen Interesse!»
    «Ein Ungläubiger!» heulte die Menge los, «ein Lästerer! Schlagt ihn tot!»
    Ein ungeheurer Tumult brach los. Humpelnde Elendsgestalten kamen die Treppe der Kanzel herauf, Hände griffen nach dem Feuerwehrmann, würgten ihn, schlugen auf ihn ein, stießen ihn über die Kanzelbrüstung, er fiel und schlug hart auf den Boden darunter auf, Hiebe von Krücken und Stöcken hagelten auf ihn nieder, Füße traten nach ihm und stampften auf ihm herum, bis er sich nicht mehr regte.
    «Sechstausenddreihundertvierzehn ...».dröhnte der Lautsprecher, «sechstausenddreihundertdreizehn ... sechstausenddreihundertzwölf ...»
    Es verging eine Weile, ehe der Feuerwehrmann wieder zu sich kam und sich aufsetzen konnte. Sein Kopf schmerzte, sein linkes Auge war zugeschwollen, er blutete aus Mund und Nase. Er bemerkte, daß ihm der Helm abhanden gekommen war. Jacke und Hose waren in Fetzen gerissen. Jetzt sah er selber aus wie eine der Elendsgestalten, die wieder um ihn her drängten, aber sich nicht mehr um ihn kümmerten. Er versuchte aufzustehen, fiel aber sofort wieder auf alle viere nieder. Alles drehte sich um ihn her, und ihm wurde sterbensübel. Er erbrach sich.
    Etwas später kroch er zwischen den Füßen der Menge herum und entdeckte schließlich an einer der Wände einen Beichtstuhl, der durch das herabrinnende Wachs zu einer Art Tropfsteingrotte geworden war. Mit großer Anstrengung zog er sich hinein, schloß die Tür, lehnte sich in die Ecke und verlor von neuem das Bewußtsein.
    Er wußte nicht, wieviel Zeit er so gesessen hatte, als ein leises Geräusch nahe seinem Ohr ihn erwachen ließ. Der Lärm und das Geschrei draußen in der Halle war heftig wie zuvor, aber dieses Geräusch kam durch das kleine Gitter der Zwischenwand, die den Beichtstuhl in zwei Zellen teilte, und es klang wie das verzweifelte, leise Schluchzen eines Kindes. Das überraschte den Feuerwehrmann, denn Kinder hatte er bisher in der ganzen Bahnhofskathedrale nicht bemerkt. Er versuchte durch die Löcher des Gitters zu spähen, konnte aber nichts sehen. Statt dessen vernahm er aus dem Schluchzen halb geflüsterte Worte:
    «Lieber Gott, wo bist du...? Und wo ist die Welt geblieben ...? Ich kann sie nicht finden ... Sie ist nicht mehr da ... ich bin schon tot ... und bin überhaupt noch nicht zur Welt gekommen ...»
    «Du, wer bist du?» fragte der Feuerwehrmann, «ich wollte nicht zuhören, aber ich war die ganze Zeit hier. Entschuldige bitte! Ich möchte dir nur sagen: Das hier ist nur eine Zwischenstation, es gibt nämlich ... Hallo, du da drüben! Hörst du? Willst du nicht mit mir reden?»
    Aber auf der anderen Seite blieb es still. Er öffnete die Tür des Beichtstuhls, um auf der anderen Seite nachzusehen, aber da war niemand. Auf dem Platz stand nur die große, schwere

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