Der Spiegel im Spiegel
mußte er mit Leib und Seele präsent sein. Sein Tanz begann mit einem mächtigen Paukenschlag und einem wirbelnden Furioso von Sprüngen. Wenn er den Einsatz versäumte, war alles verloren, er würde den verpaßten Takt nie wieder einholen. In Gedanken ging er noch einmal alle Schritte durch, die Pirouetten, Entrechats, Jettees und Arabesques.
Er war zufrieden, alles war ihm gegenwärtig. Er war sicher, daß er gut sein würde. Er hörte schon den Applaus aufbranden wie goldenes Meeresrauschen. Auch das Remercieren nahm er noch einmal durch, denn es war wichtig. Wer es gut machte, konnte damit bisweilen den Beifall beträchtlich verlängern. Während er das alles bedachte, stand er und wartete, Standbein und Spielbein gekreuzt, die rechte Hand hängend, die linke leicht auf die Hüfte gestützt. Von Zeit zu Zeit, wenn die zunehmende Ermüdung ihn zwang, wechselte er die Haltung, sich von neuem in das seitenverkehrte Spiegelbild seines gespiegelten Spiegelbildes verwandelnd.
Der Vorhang hob sich noch immer nicht, und er fragte sich, was die Ursache dafür sein mochte. Hatte man vielleicht vergessen, daß er schon hier auf der Bühne stand, bereit zum Beginn? Suchte man ihn womöglich in seiner Garderobe, in der Kantine des Theaters oder gar zu Hause, suchte händeringend und verzweifelt? Sollte er sich vielleicht bemerkbar machen ins Dunkel der Bühne hinein, rufen oder winken? Oder suchte man ihn überhaupt nicht, sondern war die Vorstellung aus irgendeinem Grund verschoben worden? Fiel sie am Ende ganz aus, ohne daß man ihm davon Mitteilung gemacht hatte? Vielleicht waren alle längst schon fortgegangen, ohne sich daran zu erinnern. daß er hier stand und auf seinen Auftritt wartete. Wie lange stand er denn schon hier? Wer hatte ihm überhaupt diesen Platz zugewiesen? Wer hatte ihm denn gesagt, daß dies der Vorhang sei und daß er, sobald dieser aufgezogen werde, mit seinem Tanz beginnen solle? Er begann nachzurechnen, wie oft er sich wohl schon in sein Spiegelbild und das Spiegelbild seines Spiegelbildes verwandelt haben mochte, untersagte es sich aber sogleich wieder, um nicht etwa vom plötzlichen Aufgehen des Vorhanges überrascht zu werden und verwirrt, seines Parts nicht mehr inne, hilflos ins Publikum zu starren. Nein, er mußte ruhig und konzentriert bleiben!
Aber der Vorhang regte sich nicht.
Nach und nach wich seine anfängliche glückliche Erregung einer tiefen Erbitterung. Er hatte das Gefühl, daß Schindluder mit ihm getrieben wurde. Er wäre am liebsten von der Bühne gerannt, um sich irgendwo lautstark zu beschweren, um seine Enttäuschung, seine Wut jemand ins Gesicht zu schreien, um Krach zu machen. Aber er war sich nicht sicher, wohin er laufen mußte. Das Wenige, was er von dem schwarzen Tuch vor sich sah, war ja seine einzige Orientierung. Wenn er diesen seinen Platz verließ, würde er in der Dunkelheit herumtappen und unfehlbar jede Orientierung verlieren. Und es konnte sehr gut geschehen, daß gerade in diesem Augenblick der Vorhang aufgezogen würde und der Paukenschlag des Beginns ertönte. Und er stünde dann am völlig falschen Platz, die Hände wie ein Blinder vorgestreckt, womöglich den Rücken zum Publikum. Unmöglich! Ihm wurde heiß vor Scham bei dieser Vorstellung. Nein, nein, er mußte unbedingt bleiben, wo er war, wohl oder übel, und abwarten, ob und wann man ihm ein Zeichen geben würde. Er stand also, Standbein und Spielbein ge-kreuzt, die linke Hand schlaff hängend, die rechte schwer auf die Hüfte gestützt. Von Zeit zu Zeit, wenn die Erschöpfung ihn zwang, wechselte er die Pose, sich zum wer weiß wievielten Male in sein Spiegelbild verwandelnd.
Irgendwann gab er den Glauben daran auf, daß der Vorhang sich je öffnen würde, wußte aber zugleich, daß er seinen Platz nicht verlassen konnte, da ja die Möglichkeit, daß er sich wider alle Erwartung doch noch öffnete, nicht auszuschließen war. Er hatte es längst aufgegeben, zu hoffen oder sich zu ärgern. Er konnte nur stehen bleiben, wo er stand, was auch immer geschehen oder nicht geschehen mochte. Ihm lag nichts mehr an seinem Auftritt, ob dieser nun ein Erfolg oder ein Fiasco werden würde oder auch gar nicht stattfinden sollte. Und da ihm sein Tanz nichts mehr bedeutete, vergaß er einen um den anderen alle Schritte und Sprünge. Er vergaß über dem Warten schließlich sogar, warum er wartete. Aber er blieb stehen, Standbein und Spielbein gekreuzt, vor sich das schwere schwarze Tuch, das sich nach oben und
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