Der Spiegel im Spiegel
Überlegen, «ich werde Sie begleiten. Ich bin neugierig, diesen einen privilegierten Sterbenden zu sehen.» «Ich habe nur von einem letzten Dienst gesprochen, mein Sohn», antwortete der Alte und neigte seine Kochmütze. Dann winkte er den Kindern, sie formierten sich in der gleichen Ordnung wie zuvor, und die kleine Prozession setzte sich von neuem in Bewegung. Der Diktator, die Waffe noch immer in der Hand, hinkte neben dem Alten her.
Die immer gleiche spinatgrüne Tür mit der Nummer 401, die in regelmäßigen Abständen an ihnen vorbeizog, ließ im Diktator nach und nach den Eindruck entstehen, als kämen sie überhaupt nicht vom Fleck, als gingen sie seit Stunden auf der gleichen Stelle. Lange Zeit später sagte er:
«Wozu soviel Aufhebens mit den Sterbenden? Früher oder später wären sie auf andere Weise gestorben.»
«Das ist wahr», antwortete der Alte, «aber es ist nicht das gleiche.» «Was macht es für einen Unterschied?» fragte der Diktator.
Der Alte überlegte eine Weile, ehe er murmelte: «Zumindest für dich macht es einen. Warum hast du das alles angerichtet?»
«Ich war dazu gezwungen», versetzte der Diktator. «Ich bedaure nichts. Um keinen von allen tut es mir leid.»
Und nach einer Weile setzte er leiser hinzu:
«Ich beneide sie darum, daß sie sterben können.»
Sie gingen langsam weiter, von einer Tür zur nächsten, und es war wiederum ungewiß, ob der Alte die Worte gehört hatte. Aber nach einer langen Pause wiederholte er:
«Du warst dazu gezwungen? Also warst du nicht mächtig genug, wenn sie dich zwingen konnten?»
«Um die Macht zu bekommen», antwortete der Diktator, «mußte ich sie denen nehmen, die sie hatten. Und um sie zu behalten, mußte ich sie gegen diejenigen gebrauchen, die sie mir nehmen wollten.»
Der Alte nickte.
«Das ist eine alte Geschichte. Sie hat sich tausendmal wiederholt. Aber niemand glaubt sie. Darum wird sie sich noch tausendmal wiederholen.»
Der Diktator fühlte sich plötzlich sehr müde und hätte sich gern niedergesetzt, aber der Alte und die Kinder gingen weiter, und er folgte ihnen.
«Und du?» stieß er hervor, als er wieder neben ihm ging, «was weißt du von der Macht? Glaubst du, daß irgend etwas Großes auf Erden bewirkt werden kann ohne sie?»
«Ich?» fragte der Alte mit der Kochmütze, «ich weiß nicht, was groß ist oder klein.»
«Ich wollte die Macht haben, um Gerechtigkeit zu schaffen», schrie der Diktator, und aus seiner Stirnwunde begann das Blut von neuem zu fließen, «aber um sie zu bekommen, mußte ich Unrecht begehen. Jeder muß es, der sie haben will. Ich wollte die Unterdrückung beenden, aber dazu mußte ich diejenigen, die mich daran hindern wollten, in den Kerker werfen und vernichten. Ich mußte zum Unterdrücker werden. Um die Gewalt abzuschaffen, müssen wir Gewalt anwenden. Um das Elend zu beseitigen, müssen wir Elend hervorrufen. Um den Krieg unmöglich zu machen, müssen wir Kriege führen. Um die Welt zu retten, müssen wir die Welt vernichten. Das ist die Wahrheit der Macht!»
Er keuchte. Er hatte sich dem Alten von neuem in den Weg gestellt und die Pistole schußbereit gehoben.
«Und doch liebst du sie noch immer», sagte der Alte leise.
Die Stimme des Diktators klang jetzt brüchig.
«Sie ist die Tugend aller Tugenden. Sie hat nur einen Fehler, aber der verdirbt alles: Sie ist niemals vollkommen. Darum ist sie unersättlich. Nur die Allmacht ist wirkliche Macht. Aber die ist unmöglich. Darum bin ich von ihr enttäuscht. Sie hat mich betrogen.»
«Und so», versetzte der Alte, «bist du der geworden, den du bekämpfen wolltest. Und das geschieht immer wieder. Darum kannst du nicht sterben.»
Der Diktator ließ langsam die Waffe sinken.
«Ja», sagte er, «so ist es. Was soll man machen?»
«Kennst du denn nicht» fragte der Alte, «die Legende vom glücklichen Herrscher?»
«Nein», antwortete der Diktator, «und deine Geschichten interessieren mich nicht.»
Dennoch ließ er zu, daß der Alte ihn bei der Hand nahm und weiterführte. Er hörte die Greisenstimme halblaut neben sich reden und reden, hörte Worte, aber er hörte nicht zu. Er versuchte sich zu erinnern, wofür er eigentlich um die Macht gekämpft hatte und auf welcher Seite, aber er konnte sich nicht mehr erinnern.
Lange Zeit später erst drangen die Worte des Alten in sein Bewußtsein:
«... als er daran ging, seinen riesenhaften, geheimnisvollen Palast zu errichten, dessen Planung allein er zehn Jahre seines Lebens
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