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Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ende
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vielen Einschüssen durchlöchert, sein gewaltiger Körper von zahllosen Kugeln durchbohrt, sein Herz, seine Lungen, seine Leber und seine Eingeweide, sogar mitten auf der Stirn leuchtete blutig ein rundes kleines Loch wie ein böses drittes Auge. Er war tödlich verwundet, aber er konnte nicht sterben. Er hatte es immer gewußt, alle hatten es gewußt, er war unsterblich.
    Dennoch machten sie Jagd auf ihn, sie alle, deren Jäger er bisher gewesen war. Er war unsterblich, aber er war nicht unverwundbar. Er fühlte den Schmerz, der seinen Körper mit unerträglicher Leere ausfüllte, als sei er eine Hohlform und die Luft um ihn her sternglitzernder Granit. Er suchte Zuflucht in den Sälen der Staatsarchive, doch hier waren Barrikaden aus Geheimakten errichtet, hinter denen hundert Mündungsfeuer aufblitzten. Er warf sich zu Boden, kroch weiter, suchte Deckung hinter Mauern aus Gerichtsakten, robbte durch Laufgräben aus Dossiers, zog sich mit den Fingernägeln vorwärts, grub sich durch Halden aus zerfetzten und angekohlten Haftbefehlen und blieb zuletzt mit pfeifendem Atem liegen.
    Ich möchte schlafen, dachte er, fünf Minuten oder hundert Jahre. Aber der Krieg ist noch nicht zu Ende. Der Krieg ist nie zu Ende. Und solange Krieg ist, bin ich nicht geschlagen. Sie benützen meine eigenen Waffen gegen mich, deshalb können sie mich niemals besiegen.
    Er hob vorsichtig den Kopf, alle viere von sich gestreckt. Erst jetzt kam ihm zu Bewußtsein, daß ihn Stille umgab. Eine Feuerpause war eingetreten, endlich.
    Goldene Dämmerung herrschte rings umher. Er setzte sich auf. Der Mosaikboden unter ihm zeigte, soweit er es in der Verkürzung ausmachen konnte, das Bild eines Pelikans, der seine Brut mit dem Blutstrahl aus seiner eigenen Brust tränkte. Daneben die Inschrift in Goldlettern: Amor Amoris Gratias. Der Diktator hatte einen Geschmack von Kupfer und Grünspan im Mund, er wollte ausspucken, aber er hatte keinen Speichel.
    Eine kreisrunde, riesenhafte Marmorhalle wölbte sich über ihm. Er selbst saß winzig genau im Zentrum, im Schwarzen der Zielscheibe -sozusagen. Er verzog den Mund, wischte sich das Blut aus dem Bart und stellte sich auf seine Füße. Er mußte sich in Sicherheit bringen.
    Türen schien es nicht zu geben, Fenster auch nicht. Das goldene Dämmerlicht kam von oben, nicht zu sehen, woher. Wie war er hier hereingekommen? Das war nun schon gleichgültig. Wichtig war, wieder hinauszukommen.
    Eine gewaltige Steintreppe, von dicken Säulen getragen, schwang sich in weitem Halbkreis aufwärts. Hoch droben mündete sie in einen Rundgang, der um die ganze Hallenwand lief. Von dort aus führten weitere Treppen kreuz und quer in noch höhere Rundgänge, wo sich immer neue Durchblicke auf Treppen, Gewölbe und Loggien ergaben, alles prunküberladen und goldglänzend. Dazwischen allenthalben Figuren aus Stein oder Bronze, kleinere und riesenhafte, zahllose menschliche Gestalten in faltenreiche Gewänder gehüllt, ausgestreckte Finger, erhobene Hände, Gebärden der Würde, des Belehrens, der Verzückung, der Strenge. Manche riefen unhörbare Botschaften hinauf und hinunter, dringende Botschaften offenbar, denn die. welche sie empfingen, waren erregt und erschüttert, das war deutlich zu sehen. Ein außerweltlicher lautloser Disput, der wichtigste Entscheidungen zu treffen hatte und niemals zu Ende kam. Vielleicht ging es auch ihnen um die Frage der Macht, die Frage aller Fragen.
    Der Diktator machte sich an den Aufstieg, langsam, Schritt für Schritt. Die Treppe war hoch wie ein Berg. Auf der obersten Stufe setzte er sich nieder und sammelte neue Kräfte. Dann hinkte er weiter, durch die Loggia im Halbkreis an der Wand entlang, fand schließlich den Zugang zu einer der vielen anderen Treppen, doch diese war nun schmal und schlang sich eng um eine dicke grüne Steinsäule. Ihre Stufen waren spiegelblank, und ein Geländer gab es nicht. Er tastete sich mit der Hand an der Säule entlang und schaute nicht hinunter. Er wußte nicht, wie hoch er war, irgendwo in der Kuppel jedenfalls.
    Die Wendeltreppe endete unter einer der Kassetten, aus denen sich die Decke zusammensetzte. Der Diktator stemmte von unten seine Schultern dagegen, um sie zu öffnen, doch vergebens. Erst als er keuchend innehielt und sich abermals niedersetzte, öffnete sie sich von selbst nach unten, fiel ihm entgegen. Er klomm durch die Öffnung hinauf.
    Vor ihm lag in grauem dunstigem Licht ein langer schnurgerader Korridor, der bis zum Horizont zu

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