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Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ende
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gewidmet hatte und zu welchem, schon lange ehe er vollendet war, die Völker wallfahrteten, um ihn zu bestaunen - da ging er, niemand wird je mit Sicherheit sagen können, warum er es tat, aus Weisheit oder aus Selbsthaß, in der Nacht nach der Grundsteinlegung, als der Bauplatz menschenleer und im Finstern lag, heimlich hin und setzte ein Nest von Termiten in eine Grube unter den Grundstein. Als viele Jahrzehnte später - fast sein ganzes Leben war darüber hingegangen, und er selbst hatte über den vielfältigen Wirren seiner Regierungszeit die Termiten längst vergessen - der unvergleichliche Bau endlich fertiggestellt war und er, der Bauherr und Schöpfer des Ganzen, erstmalig die Zinne des höchsten Turmes betrat, da hatten zur gleichen Stunde auch die Termiten ihr unsichtbares Werk vollendet. Da er selbst und alle, die mit ihm waren, im Staub und Trümmerwerk des zusammenbrechenden Riesenbaues begraben wurden, ist uns nicht überliefert, ob er ein letztes Wort rief, das alles erklärt hätte, aber die Legende behauptet mit erstaunlicher Hartnäckigkeit, das Antlitz seines Leichnams, der später fast unversehrt gefunden wurde, habe ein glückliches Lächeln gezeigt.»
    Die Greisenstimme verstummte. Eine der Türen mit der Nummer 401 stand offen, die kleine Prozession bog ein und betrat einen Saal, der bis auf einen großen Lehnstuhl aus rotem Samt an der Stirnwand leer war. Der Alte mit der Kochmütze führte den Diktator zu dem Sessel und hob ihn hinein. Nun saß er wie ein Kind in dem gewaltigen Möbel und blickte auf seine Beine, die gerade ausgestreckt vor ihm auf dem Sitzpolster lagen.
    «Wie fühlst du dich, mein Kleiner?» fragte die Greisenstimme, «du siehst aus, als hättest du keinen Tropfen Blut mehr in dir.»
    «Ich fühle nichts mehr», antwortete der Diktator, «keine Glieder, keinen Körper, alles ist leer. Hilf mir!» Der Alte nickte.
    «Ich sagte dir doch, daß wir zu einem letzten Dienst müssen.»
    Der Diktator hatte keine Kraft mehr, den Kopf zu bewegen, aber er ließ seine brennenden Augen im Saal umherwandern. Außer der Gruppe der Kinder, die sich in einer entfernten Ecke des Saales zusammendrängten, konnte er niemand sehen.
    «Ich verstehe», flüsterte er mit einem Versuch zu grinsen, aber es wurde nur eine greinende Grimasse daraus.
    «Du verstehst nichts, mein Kleiner», hörte er die Stimme des Alten ganz nah an seinem Ohr. «Du kannst nicht sterben, aber du kannst ungeboren werden.»
    Der Diktator nickte und schloß die Augen. Er spürte, wie ihm von sanften, kühlen Händen die Pistole aus der Hand genommen wurde, und er ließ es geschehen. Dann hörte er, wie der Alte geschäftig allerhand Vorbereitungen traf, und hörte dessen Stimme murmeln:
    «Schu schu, so ist es brav, mein Kleiner, brav, mein Kleiner.»
    Er zwang sich, seine steinschweren Lider noch einmal zu öffnen.
    Erst nach langer Anstrengung gelang es ihm. Er sah vor sich das Greisengesicht, jetzt erschreckend groß. Der Alte hatte seine Kochmütze abgenommen, so daß ihm langes, fahlgraues Haar bis auf die Schultern fiel. Der Diktator begriff plötzlich, daß es sich in Wahrheit um eine sehr alte Frau handelte.
    Geschäftig und betulich wie ein Kindermädchen nickte sie ihm zu. Und während in der Ecke des Saales, nun sehr fern und ganz klein, die Gruppe der Kinder leise zu singen begann, hob sie langsam den Kelch an seine Lippen.
    Er trank und trank in gierigen Schlucken. Als der Kelch leer war und ihm fortgenommen wurde, fand er sich als nackter, schrundiger Säugling inmitten der zerfetzten, schwarzglänzenden Lederuniform, die wie eine leere Insektenlarve auf dem Sitzpolster lag. Er wollte schreien, aber aus seinem Mund kam nur ein dünnes Krächzen.
    «Schu schu», summte das alte Kindermädchen, «mußt keine Angst haben, mein Kleinchen. Ist gleich alles vorbei. Tut gar nicht weh.»
    Sie wickelte ihn in ihre Schürze, winkte, und die Kinder in den Spitzenhemden kamen herbei, immer noch singend, und sie gingen mit ihm durch die Wand hinaus, die sich in graues, dunstiges Licht auflöste.
    Die Alte trug ihn auf dem Arm durch den nächtlichen Park der Zitadelle. Eine Weile schien sie eine bestimmte Stelle zwischen den Bäumen und Büschen zu suchen, dann hatte sie sie gefunden. Es war ein Grashügel, durch eine Granate oder ein Erdbeben in der Mitte gespalten, so daß er einem großen Schoß glich. Die Alte ging mit ihm dort hinein. Als sie ihn aus ihrer Schürze wickelte, blieb er stumm. Er war jetzt ein winziger

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