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Der Spiegel im Spiegel

Der Spiegel im Spiegel

Titel: Der Spiegel im Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ende
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reichen schien. In beiden Wänden befand sich in gewissen Abständen immer die gleiche spinatgrüne Tür. Daß es die gleiche war, zeigte schon die Nummer 401, die auf allen wiederkehrte. Ihm fiel der nach kalter Angst riechende Flur jenes Schulhauses ein, das er als Kind so gehaßt und gefürchtet hatte. Es war nicht gut, hierher zurückzukehren. Aber er konnte nicht umkehren, denn die Klappe im Boden war unauffindbar.
    Also zwang er sich weiterzugehen. Er hörte nichts als seinen eigenen humpelnden Schritt, stampfend und ungleichmäßig wie das Pochen eines versagenden Herzens. Der Korridor nahm kein Ende.
    Dann blieb er stehen, denn von weitem drang das Bimmeln von Glöckchen an sein Ohr. Er versuchte das graue, dunstige Licht mit seinem Blick zu durchdringen. Aus der Ferne, dorther, wo die Wände des Korridors in einen Punkt zusammenliefen, kam langsam eine kleine Prozession von Menschen heran. Der Diktator zog die Pistole aus dem Halfter an seinem Gürtel und entsicherte sie.
    Es dauerte lange, bis sie heran waren. Voran ein etwa sechsjähriges Kind in einem knöchellangen Spitzenhemd, in jeder Hand ein silbernes Glöckchen. Hinter ihm schritt ein alter Mann, ebenfalls im langen Spitzenkleid, doch hatte er eine Schürze umgebunden und trug auf dem Kopf eine blütenweiße hohe Kochmütze. In einer Hand hielt er einen goldenen Kelch, auf dem ein umgekehrter silberner Teller lag, den er behutsam mit der anderen Hand festhielt. Ihm folgten zwei Kinder, die silberne Kohlenbecken trugen, aus denen ein wenig Rauch aufstieg. Danach kamen weitere Kinder, alle in den gleichen Spitzenhemden, die Gabeln, Löffel, Büchsen, Siebe und anderes Küchengerät trugen.
    Der Diktator stellte sich breitbeinig in die Mitte des Korridors und hob die Pistole.
    «Halt! Stehenbleiben!» sagte er mit blutloser Stimme.
    Der alte Mann mit der Kochmütze schien ihn tatsächlich erst jetzt zu bemerken. Mehr erstaunt als erschrocken hob er die Augen von dem Kelch in seinen Händen und richtete sie auf den Diktator. Die Kinder blieben ängstlich zurück, aber der Alte ging weiter auf die Pistole zu. Der Diktator spannte den Hahn.
    «Bleib stehen!» sagte er noch einmal, jetzt lauter, denn es kam ihm in den Sinn, daß der alte Mann vielleicht taub war. Vielleicht tat er aber auch nur so. Jetzt, wo die Sache des Diktators verloren schien, war die Welt voller Verräter. Und kein Mittel war ihnen zu schlecht. Nun gut, ihm auch nicht.
    «Wohin?» stieß er hervor und richtete die Pistole auf das Gesicht des Alten. Der blickte nachdenklich in die Mündung der Waffe, dann musterte er ruhig die zerfetzte und durchlöcherte Lederuniform, den blutverkrusteten Bart, die Einschußwunde auf der Stirn seines Gegenübers, dann erst sah er ihm in die Augen. Er nahm sich Zeit zu alledem, und der Diktator fühlte kalt und süß den Haß in seine brennende Kehle steigen. Das erleichterte ihn, stimmte ihn geradezu dankbar. Er war es müde. aus kalter Vernunft zu töten. Der Mann mit der Kochmütze schien nun begriffen zu haben. Er senkte demütig den Blick, verneigte sich ein wenig und murmelte:
    «Mein Sohn - lassen Sie uns bitte weitergehen. Wir haben es eilig.»
    Der Diktator mußte grinsen über soviel Einfalt. «Geduld, mein Vater, nur Geduld!» Und einem plötzlichen Einfall folgend, klopfte er mit dem Lauf der Pistole an den Kelch.
    «Betrachten Sie mich als Ihren Gast, Vater. Wollen Sie mir nicht ein Schlückchen anbieten? Mich dürstet.»
    Im Gesicht des Alten regte sich keine Miene, möglicherweise hatte er wiederum nicht verstanden. Nach einer Weile raunte er in vertraulichem Ton:
    «Verstehen Sie bitte, es geht um einen letzten Dienst.»
    «Sie scherzen!» erwiderte der Diktator, und die Stimme versagte ihm fast vor Wut. Er holte mit pfeifenden Lungen Luft und richtete sich hoch auf.
    «Falls Sie es noch nicht bemerkt haben, Vater: Dort draußen ist eine Welt voll von Sterbenden.
    Sie liegen in Haufen auf den Straßen und Plätzen. Man versteht sein eigenes Wort nicht mehr in ihrem Gebrüll. Sie kriechen einem zwischen den Füßen herum, sie klammern sich an einen, man wird sie nicht los. Die Welt, Vater, besteht nur noch aus Sterbenden. Die Welt selbst liegt im Sterben. Aber Sie, Vater, Sie müssen dringend zu einem besonderen Sterbenden, beruflich sozusagen, und dabei wünschen Sie nicht gestört zu werden.»
    «Ja», antwortete der Alte und sah den Diktator traurig an, «so ist es. Was soll man machen?»
    «Gut», sagte der Diktator nach kurzem

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