Der Spieler (German Edition)
räusperte sich und spuckte auf den Boden, wo sich gleich neben ihm eine gelbe, von smogschwarzen Klümpchen durchsetzte Schleimpfütze sammelte.
»Und ob«, erwiderte Wang Jun.
»Wie viel hast du denn in den Taschen?«
Wang Jun zuckte mit den Achseln, und der Tibeter lachte wieder. »Gar nichts hast du, du mickriger kleiner Kerl. Komm wieder, wenn du etwas in den Taschen hast.«
Dann schwenkte er seine Potenzmittel vor interessierten und zahlungskräftigeren Kunden, die sich inzwischen versammelt hatten. Wang Jun verschwand wieder in der Menge.
Der Tibeter hatte recht. Seine Taschen waren leer. Bis auf eine rattenverseuchte Wolldecke, die er in einem Stone Ailixin -Pappkarton versteckt hatte, einen kleinen kaputten VTOL-Spielzeugflieger und eine abgerissene gelbe Schulmütze aus Wolle besaß er nichts.
Als er damals von den grünen Terrassen der Berge hierhergekommen war, hatte er allerdings noch weniger besessen als das. Mit leeren Händen und leeren Taschen, bereits von der Pest gezeichnet und voller Erinnerungen an ein stilles staubiges Dorf, in dem nichts mehr lebte, war er nach Chengdu gekommen. Die Erinnerung an den Schmerz hatte sich derart tief in seinen Körper eingegraben, dass er in Gedenken an dieses Leid dauerhaft in einer Kauerhaltung verharrte.
Damals hatte er leere Taschen gehabt, und auch heute noch hatte er leere Taschen. Vielleicht hätte ihm das zu schaffen gemacht, wenn er je etwas anderes außer Mangel gekannt hätte. Außer Hunger. Wie der Tibeter ihn abgefertigt hatte, war für ihn nicht ärgerlicher als die Neonschriftzüge an den Dächern der Türme, die den Regen wechselweise in rotes, gelbes, blaues und grünes Licht tauchten. Elektrische Farben erfüllten die Finsternis mit einem hypnotisierenden Rhythmus und funkelnden Träumen: Red Pagoda Cigarettes , Five Star Beer , Shizi Jituan Software und die Heaven City Banking Corporation . Konfuzius Jiajiu versprach die tröstliche Wirkung warmen Reisweins, JinLong Pharmaceuticals hingegen ein langes Leben – und all das lag außerhalb seiner Reichweite.
Also hockte er sich, gebeugt und verkrüppelt, mit seinen leeren Taschen und seinem genauso leerem Magen in einen vom Regen blankgeputzten Hauseingang und suchte mit weit aufgerissenen Augen nach jemandem, der ihn heute Abend ernähren würde. Hoch über ihm hingen die leuchtenden Versprechungen, eher denjenigen Menschen zugedacht, die in den Hochhäusern lebten – die hatten Bargeld und Beamte in ihren Taschen. Dort oben gab es nichts, was er kannte oder verstanden hätte. Hustend befreite er sich von dem schwarzen Schleim in seinem Hals. Diese Straßen hingegen kannte er sehr wohl. Organischen Verfall und Verzweiflung konnte er nachvollziehen. Den Hunger spürte er nagend im Bauch. Mit gierigem Blick beobachtete er die an ihm vorbeihastenden Menschen und rief ihnen in einem Gemisch aus Mandarin, Chengdu-Dialekt und den einzigen englischen Worten, die er kannte, zu: »Gebt mir Geld. Gebt mir Geld.« Er zupfte an ihren Regenschirmen und an ihren blaugelben Ponchos. Strich über Designerärmel und gepuderte Haut, bis sie nachgaben und ihm Geld hinwarfen. Diejenigen, die sich losrissen, bespuckte er. Die Wütenden, die ihn packen wollten, biss er mit scharfen gelben Zähnen.
Jetzt, in der Regenzeit, sah man nur wenige Ausländer. Der späte Oktober scheuchte sie nach Hause, zurück in die Provinzen, heimwärts in andere Länder. Magere Zeiten standen bevor, so mager, dass er sorgenvoll an seine Zukunft dachte, wenn er das zerknitterte Papier zählte, das ihm die Passanten hinwarfen. Er umklammerte die leichten Jiao- Münzen aus Aluminium, die zu seinen Füßen landeten. Die Ausländer hatten immer Papiergeld und gaben auch öfter etwas, wurden aber immer weniger.
Nachdem er die Straße abgesucht hatte, kratzte er an einem feuchten Betonbrocken, der am Boden lag. Beim Bau von Huojianzhu, so hieß es, wurde keinerlei Beton verwendet. Er überlegte, wie sich dort wohl die Böden anfühlten oder die Wände. Nur dunkel erinnerte er sich noch an sein Zuhause, bevor er nach Chengdu gekommen war: eine Lehmhütte mit einem Boden aus festgestampfter Erde. Er bezweifelte, dass der Stadtkern ebenfalls so aussehen würde.
Sein Magen begann heftig zu knurren. Über ihm lief in Endlosschleife ein Video von Lu Xieyan, einem Sänger aus Guangdong, der die Menschen auf den Straßen dazu anhielt, die drei Übel der Religion zu meiden: Dogmatismus, Terrorismus und Separatismus. Ohne die gellende Anklage
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