Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
Prolog
Die Zeit des Wartens kam ihr so
lang vor wie die Ewigkeit, in deren Schlund sie sich stürzen wollte. Sie hatte keine
konkreten Vorstellungen von dem, was sie hinter dem Vorhang erwarten würde, und
doch sehnte sie sich mit jeder Faser ihres Seins danach, dieses Leben zu verlassen.
Ganz still
lag sie da, atmete tief und ruhig. Die Turmuhr der nahegelegenen Kirche hatte wenige
Minuten zuvor drei kräftige Schläge getan. Man konnte davon ausgehen, dass alle
anderen im Haus mit Sicherheit schliefen. In dieser Nacht wollte Emilie Braun ihre
seit einiger Zeit gehegten Gedanken erneut in die blutige Tat umsetzen.
Noch einmal
sterben, diesmal aber richtig.
Behutsam,
beinahe zärtlich, glitt die linke Hand zu dem Messer, das sie in der Ritze zwischen
Bettkante und Matratze verbarg. Das Mondlicht schien friedlich durch die Gitterstäbe
hindurch. Die Klinge, die sie hervorzog, blitzte kurz auf. Ein Käuzchen unweit ihres
Fensters hielt Wache so wie sie, doch dieses würde den nächsten Morgen lebendig
erleben.
Vorsichtig
führte sie ihren Zeigefinger an der Schneide entlang und schien zufrieden. Am Abend,
als die Geräuschkulisse des Hauses es zuließ, hatte sie das Küchenmesser an einer
Fliesenkante scharf geschliffen. Ehe sie nun die Decke von ihrem ausgemergelten
Körper schob, dachte sie an das bevorstehende Ereignis, an das Gefühl, wenn das
warme Blut die Adern verließ und am Unterarm entlangkroch. Sie kannte diese Empfindung:
Es kitzelte bisweilen leicht, bevor eine wohltuende bleierne Schwere das Bewusstsein
einhüllte. Mit diesen Gedanken erhob sie sich von ihrem Bett. Sie schob die knochigen
Füße in blaue Hausschuhe aus Frottee, die eine grotesk verzerrte rosa Blüte auf
der Oberseite trugen. Dann schlurfte sie in ihrem Zimmer zu einem Tisch, der ihr
als Schreibtisch gedient hatte. Mit einem leisen Klicken erwachten 60 Watt aus der
Stehlampe zum Leben. Sie zog bedächtig die oberste Schublade des hellgrauen Tisches
auf und betrachtete mit Stolz eine dicke, braune Kladde. Die Finger ihrer linken
Hand umkrallten das Messer, als hätte sie Angst, man könne es ihr vor der Zeit wieder
entreißen. Mit der rechten Hand schrieb sie einige Sätze auf einen glatt gestrichenen
Papierbogen, den sie ebenfalls aus der Schublade hervorgezogen hatte. Ob die Zeilen
wie ein Brief aussehen sollten oder eher wie ein Tagebucheintrag, war ihr vollkommen
gleichgültig. Wichtig war nur, dass man sie fand, um denen, die sie lesen würden,
eine Menge Probleme zu bescheren:
Hans ist tot.
Gestorben.
Hat sich
in den Kopf geschossen.
Verflucht.
Hing schlaff,
weit nach hinten über die Lehne gelehnt und sah an die Decke. An der Wand neben
ihm klebte Blut aus seinem Kopf, mit dem er gedacht, studiert und mit uns geredet
hat. An der Seite des Gesichtes, dort, wo früher ein herzförmiger Leberfleck saß,
war nun ein Loch, groß wie eine Walnuss. Warum hat er das bloß gemacht, mein Hans?
Vielleicht
haben sie ihn ja auch umgebracht, die Schatten aus der Vergangenheit. Haben ihn
dazu getrieben, ihn nicht in Ruhe gelassen all die Jahre. Werd ihn gleich fragen,
wenn ich ihn treffe, wo immer das sein wird.
Vor einer
Woche schon haben sie ihn abgeholt. Vorgestern war Beerdigung, doch keiner von uns
war eingeladen, nicht mal ich. Würde ja auch niemand machen, Menschen wie uns einzuladen.
Selbst wenn
ich nicht viel rede – hab ich nie getan, deswegen bin ich ja hier –, hab ich jeden
Tag in meinem Buch geschrieben. Hab immer viel gelesen und viel geschrieben. Hab
alles ganz von Beginn an festgehalten. Hab auch aufgeschrieben, wen der Hans umgebracht
hat. Sogar in Schönschrift, damit man, wenn ich nicht mehr da bin, es gut lesen
kann. Hab mir Mühe gegeben beim Schreiben, damit man mir glaubt, dass ich nicht
verrückt bin. Jedenfalls nicht bekloppter als die meisten Leute da draußen. Die
meisten von denen da draußen gehören hier rein, die wissen’s nur noch nicht.
Emilie
Nachdem die letzte Zeile vollendet
war, legte sie das Blatt ordentlich auf den Tisch und gleich daneben die vollgeschriebene
braune Kladde. Danach ging sie zu Bett und machte ihrem Leben ein Ende.
Teil 1
Kapitel 1
Steinhöring, 18. August 1944
Gegen vier Uhr nachmittags näherte
sich auf der Auffahrt ein eleganter schwarzer Wagen dem imposanten Heimgebäude.
Man hörte den Motor von Ferne, niemand drehte sich nach ihm um.
Es war ein
brandneuer Opel Kapitän mit unfassbaren 55 PS. Bisher fehlte dem Eigentümer die
Gelegenheit, die
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