Der Spion, der aus der Kälte kam
Fiedler, der gütig zu ihr gewesen war, ihren Arm genommen und ihr gesagt hatte, sie solle nach England heimkehren? Man werde Fiedler erschießen, hatte die Frau gesagt. Warum mußte es Fiedler sein? Warum nicht der alte Mann, der die Fragen gestellt hatte, oder der blonde, der in der vorderen Reihe zwischen zwei Wächtern gesessen und fortwährend gelächelt hatte? Sie hatte jedesmal, wann immer sie sich auch umwandte, seinen glatten blonden Kopf gesehen und sein glattes, grausames Gesicht, dessen ständiges Lächeln sagen zu wollen schien, dass alles ein großer Spaß sei. Es beruhigte sie, dass Leamas und Fiedler auf derselben Seite standen. Sie wandte sich wieder zu der Frau und fragte: »Warum warten wir hier?«
Die Wärterin schob den Teller beiseite und stand auf. »Wir warten auf Anweisungen«, antwortete sie. »Man entscheidet noch, ob Sie bleiben müssen.«
»Bleiben?« wiederholte Liz mit leeren Ausdruck.
»Es ist eine Frage der Beweisaufnahme. Fiedler wird vielleicht verurteilt werden. Ich sagte Ihnen schon: Man vermutet eine Verschwörung zwischen Fiedler und Leamas.«
»Aber gegen wen? Wie konnte er sich in England verschwören? Wie konnte er hierherkommen? Er ist nicht in der Partei.«
Die Frau schüttelte den Kopf.
»Es ist geheim«, antwortete sie. »Es ist alleinige Sache des Präsidiums. Vielleicht hat ihn der Jude hergebracht.«
»Aber Sie wissen es doch«, beharrte Liz mit einem schmeichelnden Unterton. »Sie sind Kommissar hier im Gefängnis. Bestimmt hat man es Ihnen gesagt?«
»Vielleicht«, erwiderte die Frau selbstgefällig. »Aber es ist streng geheim.«
Das Telefon läutete. Die Frau nahm den Hörer ab und lauschte dann. Kurz darauf schaute sie Liz an.
»Ja, Genosse, sofort«, sagte sie und legte den Hörer auf.
»Sie müssen bleiben«, sagte sie kurz. »Das Präsidium wird den Fall Fiedler behandeln. Solange müssen Sie bleiben. Genosse Mundt will es so.«
»Wer ist Mundt?«
Die Frau sah verschmitzt aus.
»Es ist der Wunsch des Präsidiums«, sagte sie.
»Ich will nicht bleiben«, schrie Liz. »Ich will …«
»Die Partei weiß mehr über uns als wir selbst«, erwiderte die Frau. »Sie müssen hierbleiben. Es ist der Wunsch der Partei.«
»Wer ist Mundt?« fragte Liz wieder, aber auch diesmal erhielt sie keine Antwort.
Langsam folgte Liz der Frau durch endlose Gänge, durch bewachte Gittertore, an eisernen Türen vorbei, durch die kein Laut drang, endlose Stufen hinunter, durch tief unter der Erde liegende Räume, bis sie dachte, sie sei ins Innere der Hölle selbst hinabgestiegen, wo ihr nicht einmal mehr der Tod von Leamas mitgeteilt wurde.
Sie hatte keine Vorstellung, wie spät es sein mochte, als sie draußen vor ihrer Zelle Schritte auf dem Gang hörte. Es konnte ebensogut fünf Uhr nachmittag wie Mitternacht sein. Sie war wach gewesen und hatte mit leerem Ausdruck in die Dunkelheit gestarrt, während sie sich nach irgendeinem Geräusch sehnte. Sie hätte nie gedacht, dass Stille so furchtbar sein konnte. Einmal hatte sie laut geschrien, aber es gab kein Echo, nichts, nur die Erinnerung an ihre eigene Stimme. Sie stellte sich vor, dass ihr Schrei gegen die Dunkelheit geschlagen habe wie eine Faust gegen einen Felsen. Während sei auf dem Bett saß, war sie mit den Händen um sich gefahren, und es war ihr dabei so vorgekommen, als lasse die Dunkelheit sie schwerer werden, so dass sie wie ein Taucher unter Wasser umhertappte. Sie wußte, dass die Zelle klein war und außer dem Bett ein Waschbecken ohne Hähne und einen groben Tisch enthielt: sie hatte das gesehen, als sie heruntergekommen war. Danach war das Licht plötzlich erloschen, und sie war schnell in der Richtung auf das Bett zu gegangen, bis sie mit den Schienbeinen dagegenstieß. Dort war sie voll Angst geblieben, bis sie die Schritte hörte, und plötzlich die Tür ihrer Zelle geöffnet wurde.
Sie erkannte ihn sofort, obwohl sie nur seine Silhouette gegen das fahle blaue Ganglicht wahrnehmen konnte: die gutgebaute, bewegliche Gestalt, die klare Linie der Backen und das kurze blonde Haar, das vom Schein des Lichtes dahinter nur leicht berührt wurde.
»Ich bin Mundt«, sagte er. »Kommen Sie mit mir, sofort.« Seine Stimme war voll von Verachtung, aber doch leise, als wolle er es vermeiden, von anderen gehört zu werden. Liz war plötzlich von Angst erfüllt. Sie dachte an die Wärterin: »Mundt weiß mit Juden umzugehen.« Sie stand neben dem Bett, starrte ihn an und wußte nicht, was sie tun
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