Der Spitzenkandidat - Roman
bis heute nicht verziehen.
Der drei Jahre ältere Wächter hatte den Kampf um Posten und Positionen aufgegeben, war mit seinem Posten als Vorsitzender der Seniorengruppe und dem Landtagsmandat zufrieden. Er vertiefte sich in die Karte. Bitter, ungeduldig auch bei der Essensauswahl, nahm das Tagesgericht. Beim Wein einigten sie sich auf Grauburgunder.
Bitter blickte sich um und sagte: „Weißt du, was mir in diesem Lokal am besten gefällt?“
„Dass es heute nicht so voll ist wie am Wochenende. Und schattig, nicht so schwül wie im Zentrum.“
„Nein, man sieht kein einziges Plakat, von dem mein spezieller Freund Uwe auf mich herabschaut.“
Wächter lachte: „Ach Albi, du darfst dich als Letzter beklagen. Du hast ihn doch gefördert, als er noch nicht trocken hinter den Ohren war. Du warst von seinen Fähigkeiten begeistert, ich erinnere mich noch gut daran.“
„Das beruhte auf Täuschung. Er hat uns allen etwas vorgespielt, besonders mir. Bis zum Parteitag, da hat er seinen wahren Charakter enthüllt. Und jetzt darf man kein böses Wort mehr über den Kerl sagen. Alle sind wie besoffen von ihm. Als ob ich die Partei an die Wand gefahren hätte.“
„Niemand denkt das, Albi. Aber Stein ist nun mal ein ganz spezielles Kaliber. Machen wir uns nichts vor: Auch wenn er nicht wirklich dazugehört, so wie wir beide, die die Parteiluft mit der Muttermilch aufgesogen haben, ist er von ungemeinem Nutzen für uns. Er hat einfach Ausstrahlung. Die Menschen mögen ihn. Er bringt uns Stimmen, zusätzliche Stimmen aus Wählerschichten, die bislang einen Bogen um unsere Partei gemacht haben. Und viele Stimmen nennt man auch Wahlsieg.“
„Der Mann ist ein charakterloser Geselle. Nicht nur wegen Braunschweig. Was er da abgezogen hat, war eine ganz miese Nummer. Aber dafür gibt es ein anderes Wort: Sabotage, meinethalben auch Palastrevolution.“
Der Kellner brachte den Wein, solange hielten sie sich zurück. Dann stießen sie an. Wächter sagte: „Auf die absolute Mehrheit.“
„Stein trinkt fast nie, höchstens Weinschorle. Das hätte mich warnen müssen“, knurrte Bitter. „Auch wenn er im Emsland geboren ist, ein echter Niedersachse ist er nicht. Ich weiß ja, dass ihr ihn alle dynamisch findet. Er gibt den Aufrichtigen, den unabhängigen Freigeist. Dabei ist jeder seiner Sätze, jedes Wort und jede Geste einstudiert. Nichts an dem Kerl ist echt, er könnte auch geklont sein. Aber ich weiß auch, wie er über mich redet, wenn ich nicht dabei bin.“
„Du erwartest doch aber nicht ernsthaft Dankbarkeit, Albi? Das nehme ich dir nicht ab. Nicht nach 30 Jahren in der Politik.“
„Der Ton macht die Musik. Und mir passt die Musik nicht, die er macht. Als hätte er alles auf einmal erfunden: das Feuer, das Rad, die Politik und den Wahlkampf.“
„Die Zahlen sprechen für ihn. Wäre ich Opposition, würde ich auswandern. Und Hand aufs Herz, Albi, seine Ideen sind gut, er toppt uns alle. Er ist genauso wie die Bürger sich uns Politiker wünschen, kenntnisreich, innovativ, mutig und obendrein noch gut aussehend. Also kneif die Arschbacken zusammen, Albi. In vier Wochen ist alles vorbei. Und du bist Vorsitzender einer Partei, die mit absoluter Mehrheit regiert. Dir muss ich nicht sagen, was das heißt: keine Montagsrunden mehr mit unserem immerzu beleidigten kleinen Koalitionspartner, keine Krisengipfel mehr mit dieser unerträglichen Gutmenschenfrau, die überall mitreden will und von nichts eine Ahnung hat. Mann, wird das schön!“
„Du vergisst die Zinsen und Zinseszinsen. Baumgart hat nicht einfach so eine halbe Million springen lassen. Der Möchtegernwohltäter tut nie etwas ohne Gegenleistung.“
„Natürlich nicht, sonst wäre er wohl kaum 200 Millionen schwer. Früher hat dich das nicht gestört. Wahlkämpfe sind nun mal kostspielig. Und Stein ist nicht blöd, er kennt den Preis, der nach der Wahl fällig wird. Auf die Kleingartenkolonie in Ricklingen ist Baumgart seit Jahren scharf. Soll er sie haben. Luxuswohnungen und Bürogebäude machen sich ohnehin besser als popelige Kleingärten für Spießbürger.“
„Die Stimmen der Spießbürger nehmen wir trotzdem gerne“, knurrte Bitter.
„Mein Gott, sind wir heute empfindlich. So kenn ich dich gar nicht, Albi. Außerdem, was willst du. Nach der Wahl muss Stein sich der Realität stellen. Dann wird er ein Teil des Betriebes. Tagespolitik lehrt Demut, das wissen wir alten Fahrensleute doch am besten.“
Das Essen kam, sie machten sich darüber
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