Der Stalker
eine Touristin, die ein abgeschiedenes Strandhaus in Norfolk Village gemietet hatte.
Die meisten hatten ihr davon abgeraten, allein wegzufahren. Es wäre besser, wenn sie immer jemanden an ihrer Seite hätte. Aber das war nicht das, was sie jetzt brauchte. Ständig hatten irgendwelche Zeitungen bei ihr angerufen, die unbedingt ihre Geschichte bringen wollten. Sie hatten ihr Summen angeboten, von denen selbst die niedrigste geradezu absurd hoch war. Sie hatten sie nicht in Ruhe gelassen, und irgendwann war Suzanne drauf und dran gewesen, sich einfach eine Zeitung – die meistbietende – auszusuchen, alles zu erzählen und das Geld zu kassieren. Aber letztlich hatte sie es doch nicht getan. Denn wenn sie ehrlich war, wollte sie nicht, dass die ganze Sache wieder ans Tageslicht gezerrt wurde, noch dazu auf eine Art und Weise, über die sie keinerlei Kontrolle hatte. Sie wollte nicht zum öffentlichen Eigentum werden, sich auf der Straße anglotzen lassen und Gesprächsstoff an den Supermarktkassen sein. Sie wollte alles hinter sich lassen. Einfach abhauen.
Und genau das hatte sie getan.
Und was die anderen dazu sagten, war ihr egal. Ihre beste Freundin war ermordet worden. Sie selbst war ausspioniert, entführt und in einer Kiste gefangen gehalten worden. Und sie hatte zwei Menschen getötet. Dass sie in Notwehr gehandelt hatte, war etwas, das allenfalls juristisch gesehen eine gewisse Erleichterung darstellte, weil sie nicht vor Gericht oder gar ins Gefängnis kommen würde. Aber an dem wesentlichen Punkt änderte das nichts: Sie hatte zwei Menschenleben auf dem Gewissen, und das lastete nicht weniger schwer auf ihr als alles andere, was ihr passiert war.
Mittlerweile waren fünf Wochen vergangen, aber die Alpträume hatten noch nicht aufgehört. Sie waren nicht mehr so häufig wie am Anfang, überraschten sie aber oft gerade in den Momenten, in denen sie zu hoffen anfing, dass langsam alles besser wurde, dass sie ihr Leben wieder einigermaßen im Griff hatte. Sie stahlen ihr die Nächte und die Tage und machten es ihr so gut wie unmöglich, mit Zuversicht nach vorn zu blicken.
Damit würde sie wohl die nächsten Jahre leben müssen.
Suzanne war an die Psychologin Marina Esposito verwiesen worden. Die Gespräche halfen ihr sehr, aber letzten Endes würde sie mit der Sache allein fertig werden müssen.
»Das müssen Sie nicht«, hatte Marina ihr während einer Sitzung widersprochen. »Wissen Sie – Sie sind nicht die Einzige, die so was durchgemacht hat.«
Suzanne hatte sie bloß fragend angesehen. Was sollte das heißen?
Marina hatte auf ihre übereinandergeschlagenen Beine geblickt und eine nicht vorhandene Falte in ihrem Rock glattgestrichen. »Eigentlich dürfte ich es Ihnen gar nicht sagen, weil es unprofessionell ist und vielleicht sogar das gefährdet, was wir hier versuchen. Aber ich glaube, es wird Ihnen helfen, wenn Sie es hören. Mir ist letztes Jahr etwas ganz Ähnliches passiert. Ich wurde … von einem brutalen Psychopathen verschleppt, und um freizukommen, musste ich … sagen wir, es war sein Leben oder meins.«
Suzanne wusste gar nicht, wie sie darauf reagieren sollte. »Und … Sie haben es geschafft? Ich meine, natürlich haben Sie es geschafft – blöde Frage. Aber Sie … hatten Sie auch Alpträume? Immer diese Angstzustände?«
Marina nickte. »Und ob. Andauernd.«
»Und … was ist dann passiert?«
»Irgendwann sind sie weggeblieben. Irgendwann. Größtenteils. Der Körper heilt und die Seele auch, wenn sie Hilfe bekommt. Möchten Sie, dass ich Ihnen helfe?«
Suzanne hatte genickt, dann war sie in Tränen ausgebrochen.
Sie ging immer noch regelmäßig zu ihren Sitzungen mit Marina. Sie freute sich regelrecht darauf, weil sie das Gefühl hatte, dass sie sich einer Person offenbarte, die nicht nur verständnisvoll und mitfühlend war, sondern die wirklich und wahrhaftig verstand, was sie durchmachte. Weil sie es selbst auch durchgemacht hatte.
Suzanne blickte aufs Meer. Die Wellen brachen sich am Strand. Von weitem sahen sie groß und bedrohlich aus, aber je näher sie kamen, desto kleiner wurden sie, bis sie sich schließlich im Sand verliefen. Vollkommen harmlos.
Sie lächelte.
Sie würde sich von den Alpträumen nicht unterkriegen lassen.
Dieser Tag würde ein guter Tag werden.
114 Phil nippte an seinem Lager und blickte auf den Fluss. Am Wasser herrschte viel Betrieb. Alle, die im Gastraum des Rose and Crown keinen Platz mehr gefunden hatten, saßen draußen an
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