Was ist mit unseren Jungs los
2.
Wie viel Gewalt ist normal?
Wie Codes und Rituale unser Zusammenleben regeln
»Dass ich Liebe bringe, wo man sich hasst;
dass ich Versöhnung bringe, wo man sich
kränkt; dass ich Einigkeit bringe, wo Zwietracht
ist; dass ich Hoffnung bringe, wo Verzweiflung
droht …«
Franz von Assisi
Stellen Sie sich Folgendes vor: Auf rätselhafte Weise oder weil man endlich eine Zeitmaschine erfunden hat, werden Sie ins Jahr 1908 zurückversetzt! Sie dürfen 48 Stunden in der Vergangenheit verbringen. Sie landen in Wien in einer rauchigen Spelunke und sind von trinkenden Männern und Frauen umgeben. Sie sitzen vor einem Glas Bier, hören, wie über das richtige Telefonieren geredet und über Kriminalität in Ottakring debattiert wird. Sie sind der Einzige, der weiß, welch grässliche Ereignisse bevorstehen: Der erste Weltkrieg wird ausbrechen, die Wirtschaftskrise kommen, der Nationalsozialismus sich ausbreiten, das Dritte Reich errichtet und der Holocaust stattfinden. Plötzlich geht die Türe auf und ein junger Maler aus Linz tritt ein: Adolf Hitler. Er nimmt neben Ihnen Platz und bestellt ebenfalls ein Bier. Was machen Sie? Der Mann wird Grauenhaftes anrichten, Millionen von Menschen auf dem Gewissen haben. Deutschland und ganz Europa werden seinetwegen in eine Katastrophe stürzen.
Wollen Sie den neunzehnjährigen Mann in ein Gespräch verwickeln? Versuchen Sie ihn zu beeinflussen? Wollen Sie ihm ein paar seiner Bilder abkaufen, damit er eine Künstlerkarrierewählt, statt in die Politik einzusteigen? Wollen Sie mit ihm debattieren und ihn von den pangermanischen Ideen Georg von Schöneres abbringen? Ist das wirklich das richtige Vorgehen angesichts des Grauens, das dieser junge Mann anrichten wird? Wäre es nicht besser, ihn anzugreifen und gleich umzubringen? Man könnte ja geschickt vorgehen und einen perfekten Mord ausführen! Und: was bedeutet schon der eigene Tod gegen die Abermillionen Menschen, die dadurch gerettet würden!
Diese kleine Zeitreise bringt zwei Dinge an den Tag: Die Mehrheit der Leser ist wahrscheinlich mit mir einig, dass ein Mord an diesem Mann gerechtfertigt wäre, ja man würde der Menschheit einen unglaublichen Dienst erweisen. Die Geschichte würde eine andere Wende nehmen und Gräueltaten würden verhindert. Das Gedankenexperiment zeigt, dass es Situationen gibt, in denen Gewalt legitimiert ist, in denen wir uns das Recht nehmen, jemanden umzubringen. Gleichzeitig ist diese Schlussfolgerung ungeheuerlich: Wir maßen uns an, über Leben und Tod zu entscheiden! Das Gewalttabu wäre dann nicht mehr ein absolutes moralisches Gebot, sondern kann durch Situationen und Umstände relativiert werden. »Du sollst nicht töten!« gälte dann nicht immer, sondern hinge von der Situation ab.
Wahrscheinlich würde es jedoch nie so weit kommen. Ziemlich sicher wären wir nämlich zu feig, unseren Tischnachbarn zu erstechen oder zu erschießen. Wir würden verwirrt dort sitzen, wilde Gedanken würden durch unseren Kopf rasen, wir könnten uns nicht entscheiden und würden uns selber hinterfragen: Wie ist der Krieg entstanden? Wir würden nach einer Entschuldigung suchen. Und natürlich wollen wir ja nach zwei Tagen zurück in unser aktuelles Leben, zu Familie, Kindern und Freunden. Wir wollen unser Dasein nicht riskieren und hängen an unserem Leben. Die eigenen Kinder brauchen einen Vater, eine Mutter und außerdem hat man ja Ferien aufSardinien gebucht. Vielleicht würden wir uns auch fragen: Was bringt mir diese Tat? Wir würden es zu einem Eintrag in der Kriminalstatistik Wien bringen, und wenn wir den Mord spektakulär inszenieren, zu einer kleinen Meldung in der Kronenzeitung: Friedlicher Kunststudent wurde von einem Verrückten erstochen. Da Hitler keine Gelegenheit hätte, seine Verbrechen durchzuführen, endeten wir als Verbrecher. Keine Plakette und kein Nachruf, sondern unser Leichnam würde auf dem Zentralfriedhof verscharrt. Lohnt sich das?
Für die überwiegende Mehrheit der Menschen ist Gewalt keine Lösungsstrategie. Gewalt gehört nicht zu ihrem Verhaltensrepertoire. Da wir das Gewaltmonopol an den Staat delegiert haben, sind wir von solchem moralischen Dilemma befreit. In unserem Privatleben und im Beruf setzen wir auf andere Mittel, wenn wir uns Gehör verschaffen oder uns durchsetzen wollen. Wir reden, wollen überzeugen, intervenieren, streiten oder erstatten eine Anzeige. Wir definieren uns als friedliebende, nicht gewalttätige Menschen. Unser Gewaltverzicht ist jedoch nicht
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