Der steinerne Engel
verdrehte die Augen. Womit wollte diese seltsame Frau ihn jetzt wieder foltern? Als er sie ansah, ertappte er sie gerade noch bei einem verstohlenen Lächeln.
»Also jetzt mal heraus mit der Sprache.« Er hatte Mühe, höflich zu bleiben. »Ich gehe davon aus, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Mord und Mallorys Verhaftung gab, aber bei Ihnen kann man wohl nichts als selbstverständlich voraussetzen. Was ist passiert?«
Das Schweigen dehnte sich. Augusta sah mit zusammengekniffenen Augen an ihm vorbei, als mühte sie sich, das Kleingedruckte in einem Vertrag zu lesen. Charles wippte auf den Ballen und legte auffordernd den Kopf schief.
»Was passiert ist?«, wiederholte sie und machte noch einmal eine Pause. »Etliche sonderbare Dinge sind an dem Tag passiert, an dem Kathy zurückkam. Der stellvertretende Sheriff ist fast an einem Herzanfall gestorben. Und dann haben sie Babe Lauries Leiche gefunden, der Kopf war mit einem Stein zerschmettert. Nein, Moment – das bringe ich durcheinander. Erst wurden dem Idioten die Hände gebrochen, aber das geschah mit einem Klavier.«
»Einem Klavier, soso. Und all das soll Mallory an einem Tag geschafft haben?« Unwahrscheinlich. Es war ihr durchaus zuzutrauen, einen Mann so in Furcht und Schrecken zu versetzen, dass er einen Herzanfall bekam, aber als fanatisch ordnungsliebende junge Frau kam sie für einen unappetitlichen Totschlag mit einem Stein kaum in Frage. Und so einfallsreich Mallory auch war, sie würde für einen Anschlag auf einen Idioten wohl kaum ein Klavier benützt haben.
Die alte Dame drückte leicht seinen Arm, um ihn zum Weitergehen zu bewegen. »Dass sie etwas mit dem Herzanfall des Sheriffs zu tun hatte, halten wir alle für sehr wahrscheinlich. Um seine Pumpe aus dem Takt zu bringen, brauchte es nicht viel, er hat schon länger Herzbeschwerden. Ihre Bekannte hat durch ihr Auftauchen allen möglichen Leuten einen Mordsschrecken eingejagt.«
Das passte ins Bild. Ihre Mitmenschen zu erschrecken war Mallorys Spezialität. »Vielleicht könnten Sie mir, wenn Ihre Lebensmittel an Ort und Stelle sind, beschreiben, wie ich zum Gefängnis komme?«
Augusta sah ihn einigermaßen fassungslos an. Trottel , sagte ihr Blick. »Sie wollen also einfach da hineinspazieren und sagen, dass Sie Kathy sprechen wollen?«
»Ja, das habe ich vor.« Es war ein simpler, klarer Plan ohne Haken und Ösen.
»Der Sheriff wird Sie natürlich fragen, was Sie über Kathy wissen. Wenn sie gewollt hätte, dass er über sie Bescheid weiß, hätte sie ihm das wohl schon selber gesagt.«
Laut Augusta Trebec hatte sich Mallory aber geweigert, überhaupt etwas zu sagen. Miss Trebec wusste das von der Besitzerin des Lokals, das die Mahlzeiten für die Gefangenen lieferte. Seit drei Tagen saß Mallory auf der Bettkante, starrte auf die Zellenwand und brachte Sheriff Jessop zur Verzweiflung. Sie rührte sich nicht, sie sagte kein Wort. Ein- oder zweimal hatte Jane – die Besitzerin von Jane’s Café – sie lächeln sehen, während der Sheriff die Wände hochging. »Jane sagt, dass die Frau ihn jeden Tag ein bisschen mehr um den Verstand bringt. Wenn Sie also überhaupt hingehen wollen …«
»Ich verstehe, was Sie meinen.« Sein Besuch würde möglicherweise die Lage für Mallory komplizieren und ihr mit Sicherheit den Spaß verderben.
Als sie den Friedhof hinter sich hatten, endete der Kiesweg. Sie gingen jetzt über eine unbefestigte Straße, und Charles erfuhr von Augusta, dass Besuche im Gefängnis nur vormittags möglich waren und dass die gebrochenen Hände des Idioten nicht auf Mallorys Konto gingen, sondern auf das des Ermordeten.
Immerhin – das war ermutigend.
Am Anfang einer breiten Allee mit alten Bäumen blieb er stehen. Die dunklen gewundenen Äste trafen sich in der Mitte und bildeten hoch über ihren Köpfen einen grünen Baldachin. Die Spätnachmittagssonne warf goldenes Licht durch die Blätter.
»Das sind immergrüne Eichen – Quercus virginiana«, verkündete Miss Trebec, als führte sie eine Reisegruppe. »Und das Haus am Ende der Allee wurde 1850 erbaut.«
Er kannte Virginia-Eichen, aber noch nie hatte er solche Riesen gesehen. Sicher waren die Bäume älter als …
»Die Bäume sind dreihundert Jahre alt«, sagte Miss Trebec. »Über ein paar Jahrzehnte mehr oder weniger wollen wir uns nicht streiten.«
Charles wehrte sich gegen die Vorstellung, sie könne seine Gedanken lesen. Das konnte sie natürlich ebenso wenig, wie es die Männer konnten, die
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