Der steinerne Kreis
bereits. Diane streckte ihn auf den beiden freien Sitzen neben ihr aus, dann machte sie es sich selbst bequem und breitete die Decke der Fluggesellschaft über sich. Auf Langstreckenflügen war ihr dies sonst die liebste Stunde: die gedämpfte Beleuchtung, der flimmernde Bildschirm in der Ferne, die Passagiere reglos, zusammengekauert wie Kokons unter ihren Decken und ihren Kopfhörern … Dann schien alles zu treiben, zwischen Schlaf und Höhe zu schweben, irgendwo über den Wolken.
Diane lehnte den Kopf zurück und zwang sich zur Reglosigkeit. Nach und nach entspannten sich ihre Muskeln, die Schultern sanken herab, und eine tiefe Ruhe strömte durch ihre Adern. Mit geschlossenen Augen ließ sie auf dem schwarzen Hintergrund ihrer Lider die einzelnen Etappen vorüberziehen, die sie hierher geführt hatten, an diesen entscheidenden Wendepunkt ihres Lebens.
Die sportlichen Leistungen und mondänen Erfolge lagen weit zurück. Im Jahr 1992 hatte Diane cum laude in Verhaltensforschung promoviert. Ihre Doktorarbeit trug den Titel »Die Jagdstrategien und die Strukturierung des Reviers bei den großen Raubtieren im Nationalpark Massai Mara, Kenia«. Gleich danach hatte sie für mehrere private Stiftungen gearbeitet, die für die Erforschung und den Schutz der Natur erhebliche Summen ausgaben. Diane war durch Schwarzafrika, Südostasien und Indien gereist, vor allem durch Bengalen, wo sie an einem Programm zur Rettung des Tigers im Gebiet der Sundarbands mitarbeitete. Außerdem hatte sie eigenverantwortlich eine einjährige Studie über das Verhalten der kanadischen Wölfe durchgeführt, die sie beobachtet und bis an die Grenze der Nordwestterritorien, des nördlichsten Landesteils, begleitet hatte.
Sie führte nun das Leben einer Forschungsreisenden, immer unterwegs und immer allein, der Natur so nahe wie möglich und letztlich weitgehend im Einklang mit den Träumen ihrer Kindheit. Entgegen allen Erwartungen, trotz ihres Traumas und ihrer geheimen Defizite hatte Diane eine Art von Glück gefunden, das sie mit niemandem teilte, und war stark durch ihre Unabhängigkeit.
Aber im Jahr 1997 sah sie ein neues schicksalhaftes Datum auf sich zukommen: Auf einmal wurde sie sich bewusst, dass sie bald dreißig war.
An sich bedeutete der dreißigste Geburtstag nichts. Vor allem nicht für ein Mädchen wie Diane: Dank ihrer Konstitution und Körpergröße und ihrem Leben in der freien Natur war sie gegen den Zahn der Zeit besser gefeit als ihre Altersgenossinnen. Doch aus biologischer Sicht war die Zahl drei eine Schwelle. Als Biologin, Expertin für die Wissenschaft vom Leben, wusste sie, dass sich der weibliche Fortpflanzungsapparat von diesem Zeitpunkt an unmerklich zurückzubilden beginnt. Den Sitten und Gebräuchen der Industrieländer zum Trotz sind die weiblichen Geschlechtsorgane darauf angelegt, schon sehr früh zu funktionieren, wie die jugendlichen Mütter in Afrika – kaum älter als fünfzehn – beweisen, denen Diane so häufig begegnet war. Das Überschreiten der Schwelle rief ihr symbolisch eine ihrer tiefsten Erkenntnisse in Erinnerung: Sie würde nie ein Kind haben. Aus dem einfachen und einleuchtenden Grund, weil sie nie einen Mann haben würde.
Doch zu diesem Verzicht war sie nicht bereit. Sie machte sich auf die Suche nach Lösungen. Sie besorgte sich mehrere Fachbücher und vertiefte sich beklommen in die Welt der Reproduktionsmedizin. Da gab es zunächst die künstliche Befruchtung. In ihrem Fall musste sie eine Insemination mit Spendersamen ins Auge fassen. Das Spermienpellet käme von einer Samenbank und würde ihr während der fruchtbarsten Phase des Menstruationszyklus entweder durch den Gebärmutterhals oder direkt in den Uterus injiziert. Das bedeutete, dass die Ärzte mit spitzen, krummen, eiskalten Instrumenten in sie eindringen würden, dass die Substanz eines Fremden sich in ihren Bauch einschleichen und in ihre physiologischen Abläufe eingreifen würde. Sie stellte sich vor, wie ihre Organe – Gebärmutter, Eileiter, Eierstöcke – reagierten, im Kontakt mit dem »Fremden« in Aktion traten … Nein. Niemals. Für sie wäre das nichts anderes als eine klinische Vergewaltigung.
Sie befasste sich mit einer anderen Möglichkeit, der In-vitro-Fertilisation, und las, dass ihr dabei durch Punktion Follikel entnommen und im Reagenzglas künstlich befruchtet würden. Der Gedanke, dass der Vorgang außerhalb ihres Körpers stattfand, in der Sterilität eines Operationssaals, erschien ihr
Weitere Kostenlose Bücher