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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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vorgestellt, Lucien wäre ein aufgeregtes, unruhiges, unberechenbares Kind, doch er war im Gegenteil von einer verwirrenden Sanftmut und Freundlichkeit. Trotz seiner Urwaldmanieren – er aß mit den Fingern, sträubte sich heftig gegen das Waschen, versteckte sich, sobald es nur an der Tür läutete – verfügte er im Grunde seines Herzens über eine Sensibilität und Intuition, die Diane entzückten. Warum sollte sie es leugnen – Lucien ähnelte in jeder Hinsicht dem Jungen, den sie selbst zur Welt hätte bringen wollen.
    Die Essenz von allem, was ihr Entzücken erregte, fand Diane in einer ganz besonderen, außergewöhnlichen Beschäftigung, zu der sie ihn so häufig wie möglich aufforderte: wenn Lucien tanzte und sang. Aus Lust, aus Spiel, aus natürlicher Begabung äußerte ihr Adoptivsohn seine Gefühle bei jeder Gelegenheit auf diese Weise. Nachdem sie diese seine Leidenschaft entdeckt hatte, kaufte sie ihm einen leuchtend roten Kassettenrekorder mit einem zitronengelben Mikrofon. Von nun an nahm der Junge sich jedesmal auf und trommelte dabei auf einem improvisierten Schlagzeug. Der Höhepunkt der Vorstellung war ein originelles Ballett: Unvermutet spreizte sich ein Bein in einem spitzen Winkel vom Körper ab, seine Hand zupfte an einem imaginären Schleier, dann drehte sich die ganze Gestalt im Kreis, nur um mit neuem Schwung wieder loszulegen. Aus einer kauernden, gekrümmten Stellung schnellte der kleine Körper in die Höhe und öffnete sich wie die Flügel eines Skarabäus, um sich gleich darauf im Rhythmus zu wiegen.
    Bei einer dieser zügellosen Tanzvorführungen wagte es Diane, sich zu beglückwünschen. Nie hätte sie sich eine so große Seligkeit auch nur im Traum vorgestellt. Innerhalb von drei Wochen hatte sie zu einer Heiterkeit, einer inneren Gelassenheit gefunden, nach der sie sich jahrelang gesehnt hatte. Zum ersten Mal in ihrem Leben stand sie im Begriff, eine Tat zu vollbringen, die ihr ganz persönliches Dasein anging.
    In diesem Augenblick fiel ihr Blick auf die roten Ziffern an ihrem Quarzwecker mit der Datumsangabe.
    Montag, der 20. September.
    Auch wenn alles noch so wunderbar lief, stand ihr ein schrecklicher Termin bevor, der sich unmöglich noch länger hinausschieben ließ.
    Das Abendessen bei ihrer Mutter.
     

 
     
KAPITEL 6
     
    Die gepanzerte Tür öffnete sich vor einer schlanken Gestalt. Die Dielenbeleuchtung ließ ihren Haarknoten im Nacken in einem goldenen Lichthof schimmern. Bei ihrem Anblick erstarrte Diane auf der Türschwelle. Sie hielt den schlafenden Lucien in den Armen.
    »Schläft er?«, flüsterte Sybille Thiberge. »Komm herein, zeig ihn mir.«
    Diane trat einen Schritt vor und hielt gleich darauf wieder inne. Aus dem Salon drang Stimmengewirr.
    »Bist du nicht allein mit Charles?«
    Ihre Mutter warf ihr einen verlegenen Blick zu. »Charles hat für heute Abend ein wichtiges Essen geplant, und …«
    Diane machte auf dem Absatz kehrt und wollte wieder gehen, doch Sybille hielt sie mit jener Mischung aus Autorität und Sanftheit, die ihr so teuer war, am Arm fest. »Was tust du? Bist du verrückt?«, fragte sie.
    »Ein Essen im Familienkreis, hast du gesagt.«
    »Es gibt Zwänge, denen man sich nicht entziehen kann. Sei nicht albern, komm herein.«
    Trotz des Halbdunkels konnte Diane die Züge ihrer Mutter sehr genau erkennen. Fünfundfünfzig Jahre, und noch immer sah sie aus wie eine slawische Puppe mit ihren blonden Brauen und ihrem zerzausten Goldhaar, wie auf einem sowjetischen Propagandaplakat. Sie trug ein chinesisches Kleid – eingewebte Vögel auf schwarzem Grund –, das ihrer zarten, rundlichen Gestalt schmeichelte. Ein schmaler Schlitz öffnete sich über ihren makellosen Brüsten, die nie korrigiert worden waren – Diane wusste es. Fünfundfünfzig Jahre, und dieses Geschöpf rückte noch immer keinen Zollbreit von der Sinnlichkeit ihrer Jugend ab. Diane fühlte sich auf einmal magerer, ausgezehrter denn je.
    Mit hängenden Schultern ließ sie sich hineinführen, doch währenddessen murmelte sie mit einem Blick auf Lucien: »Wenn du ihn bei Tisch auch nur mit einem Wort erwähnst, schlage ich dich zusammen.«
    Ihre Mutter ging auf die gewalttätige Sprache ihrer Tochter gar nicht ein, sondern nickte nur. Diane folgte ihr durch einen sehr langen Flur, vorbei an einer Flucht geräumiger Zimmer, auf die sie keinen Blick warf; sie kannte sie ohnehin auswendig. Die exotischen Möbel, die ihre Schatten auf baldachinartige Kelims warfen,

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