Der steinerne Kreis
schienen, und diese Kombination verlieh den Musikern eine unglaubliche Leichtigkeit, Beweglichkeit und Wendigkeit, die ihnen niemand so leicht nachmachte. Das fünfte Bandmitglied spielte überhaupt kein Instrument, sondern sang nur, tanzte nur, er war der »Mann in Bewegung« im Hintergrund der Bühne, der unter seiner Lederjacke die Schultern rollen ließ. Diane überlief jedesmal ein Schaudern: Jawohl, Frankie war eine Wahnsinnsband.
Die langen Nächte der Studentin beschränkten sich allerdings mehr oder weniger aufs Musikhören. Sie ging nicht aus, tanzte nicht, traf sich mit niemandem, sondern konzentrierte sich ganz auf ihr Studium der Ethologie, saß allabendlich in ihrer Bude im Viertel Cardinal-Lemoine, vertieft in Konrad Lorenz und Johann von Uexküll, und ernährte sich von Hamburgern.
Aber einmal, an einem Abend, wollte sich Diane doch ins Gewühl stürzen.
Nathalie, die kleine Pest aus dem Biologieseminar, die es verstand, sich alles unter den Nagel zu reißen, was der Fachbereich zu bieten hatte, veranstaltete ein Fest, und Diane wollte hingehen.
Es war der richtige Augenblick: jetzt oder nie.
Der ideale Anlass, um die Probe aufs Exempel zu machen.
Später dachte Diane oft an diese entscheidende Nacht zurück.
Die Ankunft in dem Mietshaus aus Quadersteinen am Boulevard Saint-Michel, die Stille im Treppenhaus, der Veloursteppich auf den Stufen. Dann das dumpfe Hämmern der Bässe, das aus einem der oberen Stockwerke drang. Sie versuchte ihr rasendes Herz zu besänftigen, das synkopisch zu den tiefen Rhythmen von oben schlug, und umklammerte den eisigen Hals der Champagnerflasche, die sie eigens besorgt hatte. Als sie oben vor der Wohnung stand, war der rhythmische Lärm so ohrenbetäubend, dass er die breite lackierte Holztür aus den Angeln zu sprengen drohte. Die hören mich nie, dachte sie, während sie auf die Klingel drückte.
Doch beinahe augenblicklich ging die Tür auf, und ein Schwall Musik quoll heraus. Diane erkannte sofort die Stimme von Holly Johnson, dem Sänger von Frankie, der brüllte: »RELAX! DON’T DO IT!« Das war ein günstiges Vorzeichen: Ihre geliebte Band, ihr Fetisch, begleitete sie bei der Prüfung. Eine Dunkelhaarige mit knochigen Gesichtszügen unter einem übertrieben grellen Make-up wippte auf der Türschwelle auf und ab. Nathalie-die-Medusa in Person.
»Diane!«, schrie sie. »Das ist ja supertoll, dass du kommst …«
Diane lächelte über die Lüge, während Nathalie sie von Kopf bis Fuß musterte. Diane trug eine schwarze Weste mit Perlmuttknöpfen und eine enganliegende lange Hose aus dunklem Molton – diesem Stoff, der damals unumschränkt über die Körper junger Mädchen herrschte. Im Übrigen war sie in einen riesigen wattierten Mantel gehüllt, der ebenfalls schwarz war.
»Bist du mit Schlafanzug und Bettdecke gekommen?«, fragte Nathalie grinsend.
Diane fasste mit Daumen und Zeigefinger das schwarze Taftkleid des Mädchens an.
»Ist doch ein Kostümfest, oder?«
Nathalie brach in Gelächter aus. Sie nahm ihr die Champagnerflasche ab und forderte sie brüllend auf: »Komm rein. Tu deine Sachen in das Zimmer da hinten.«
Drinnen tobte das Fest. Nachdem Diane ihren Mantel abgelegt hatte, bezog sie in der Nähe des Buffets Stellung, dem traditionellen Ankerplatz für alle, die niemanden kennen. Sie hatte sich vorgenommen, keinen Alkohol anzurühren, um einen klaren Kopf zu behalten, was auch immer geschah. Doch nach einer Stunde Langeweile war sie bereits beim dritten Glas angelangt. Sie nippte in kleinen Schlucken, während sie zur Tanzfläche hinüberschaute.
Die Uhr lief.
Zwar hatte Diane mit Festen dieser Art nicht viel Erfahrung, doch der rituellen Zyklen, die dabei abliefen, war sie sich jedenfalls bewusst. Um Mitternacht begann das Vorspiel. Die Mädchen tanzten, wirbelten herum, stellten sich mit übertriebenen Hüftschwüngen und Schütteln ihrer langen Mähnen zur Schau, während die Jungen sich im Hintergrund hielten, verstohlene Blicke warfen, mit flotten Sprüchen den Kontakt einleiteten …
Um zwei Uhr morgens begann eine neue Phase, das Fest begann zu brodeln, die Musik nahm an Lautstärke zu. Der Alkohol überwand jede Hemmung, alle Hoffnungen waren erlaubt. Die Jungen schritten zur Tat, brüllten über die Menge hinweg, suchten sich ihre Beute. Wieder war es Frankie, der die Menge bis zur Raserei aufpeitschte. Two Tribes . Ein Protestsong gegen den Krieg, unterlegt von einem wilden Beat, von dem Diane jede einzelne Note, jeden
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