Der Steppenwolf
sie eine Weile bei mir – sie kam, um ihre Eintrittskarte abzuholen, die ich besorgt hatte – und saß friedlich bei mir in meinem Zimmer, und da kam es zu einem Gespräch, das mir merkwürdig war und tiefen Eindruck machte.
»Es geht dir jetzt eigentlich recht gut«, sagte sie, »das Tanzen bekommt dir. Wer dich vier Wochen nicht mehr gesehen hat, würde dich kaum wiederkennen.«
»Ja«, gab ich zu, »es ist mir seit Jahren nicht so gut gegangen. Das kommt alles von dir, Hermine.«
»O, nicht von deiner schönen Maria?«
»Nein. Auch die hast ja du mir geschenkt. Sie ist wunderbar.« »Sie ist die Geliebte, die du brauchtest, Steppenwolf. Hübsch, jung, guter Laune, in der Liebe sehr klug und nicht jeden Tag zu haben. Wenn du sie nicht mit andern teilen müßtest, wenn sie bei dir nicht immer bloß ein flüchtiger Gast wäre, ginge es nicht so gut.«
Ja, auch das mußte ich zugeben.
»Also hast du jetzt eigentlich alles, was du brauchst?«
»Nein, Hermine, so ist es nicht. Ich habe etwas sehr Schönes und Entzückendes, eine große Freude, einen lieben Trost. Ich bin geradezu glücklich . . .«
»Na also! Was willst du mehr?«
»Ich will mehr. Ich bin mit Glücklichsein nicht zufrieden, ich bin nicht dafür geschaffen, es ist nicht meine Bestimmung. Meine Bestimmung ist das Gegenteil.«
»Also unglücklich sein? Nun, das hast du ja reichlich gehabt, damals, als du wegen des Rasiermessers nicht mehr nach Hause gehen konntest.«
»Nein, Hermine, es ist doch anders. Damals war ich, zugegeben, sehr unglücklich. Aber es war ein dummes Unglück, ein unfruchtbares.«
»Warum denn?«
»Weil ich sonst nicht diese Angst vor dem Tode hätte haben müssen, den ich mir doch wünschte! Das Unglück, das ich brauche und ersehne, ist anders; es ist so, daß es mich mit Begier leiden und mit Wollust sterben läßt. Das ist das Unglück oder Glück, auf das ich warte.«
»Ich verstehe dich. Darin sind wir Geschwister. Aber was hast du gegen das Glück, das du jetzt, mit Maria, gefunden hast? Warum bist du nicht zufrieden?«
»Ich habe nichts gegen dieses Glück, o nein, ich liebe es, ich bin ihm dankbar. Es ist schön wie ein Sonnentag mitten in einem Regensommer. Aber ich spüre, daß es nicht dauern kann. Auch dies Glück ist unfruchtbar. Es macht zufrieden, aber Zufriedenheit ist keine Speise für mich. Es schläfert den Steppenwolf ein, es macht ihn satt. Aber es ist kein Glück, um darum zu sterben.«
»Also gestorben muß sein, Steppenwolf?«
»Ich glaube, ja! Ich bin sehr zufrieden mit meinem Glück, ich kann es noch eine ganze Weile ertragen. Aber wenn das Glück mir manchmal eine Stunde Zeit läßt, zum Wachwerden und zum Sehnsuchthaben, dann geht alle meine Sehnsucht nicht dahin, dies Glück immer zu behalten, sondern wieder zu leiden, nur schöner und weniger ärmlich als früher. Ich sehne mich nach Leiden, die mich bereit und willig machen zum Sterben.«
Hermine sah mir zärtlich in die Augen, mit dem dunklen Blick, der so plötzlich bei ihr erscheinen konnte. Herrliche, furchtbare Augen! Langsam, die Worte einzeln suchend und nebeneinander stellend, sagte sie – so leise, daß ich mich anstrengen mußte, um es zu hören:
»Ich will dir heut etwas sagen, etwas, was ich schon lange weiß, und auch du weißt es schon, aber vielleicht hast du es dir selber noch nicht gesagt. Ich sage dir jetzt, was ich über mich und dich und über unser Schicksal weiß. Du, Harry, bist ein Künstler und Denker gewesen, ein Mensch voll Freude und Glauben, immer auf der Spur des Großen und Ewigen, nie mit dem Hübschen und Kleinen zufrieden. Aber je mehr das Leben dich gewecktund zu dir selber gebracht hat, desto größer ist deine Not geworden, desto tiefer bist du in Leiden, Bangigkeit und Verzweiflung geraten, bis an den Hals, und alles, was du einst Schönes und Heiliges gekannt und geliebt und verehrt hast, all dein einstiger Glaube an die Menschen und an unsre hohe Bestimmung, hat dir nicht helfen können und ist wertlos geworden und in Scherben gegangen. Dein Glaube fand keine Luft mehr zum Atmen. Und Ersticken ist ein harter Tod. Ist es richtig, Harry? Ist das dein Schicksal?«
Ich nickte, nickte, nickte.
»Du hattest ein Bild vom Leben in dir, einen Glauben, eine Forderung, du warst zu Taten, Leiden und Opfern bereit – und dann merktest du allmählich, daß die Welt gar keine Taten und Opfer und dergleichen von dir verlangt, daß das Leben keine heroische Dichtung ist, mit Heldenrollen und dergleichen,
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