Der Steppenwolf
wie sehr ich sie geliebt und wie tief ich ihr vertraut haben mußte, daß ihr Vertrauensbruch mich so schwer und fürs Leben hatte treffen können.
Diese Bilder – es waren Hunderte, mit und ohne Namen – waren alle wieder da, stiegen jung und neu aus dem Brunnen dieser Liebesnacht, und ich wußte wieder, was ich lang im Elend vergessen hatte, daß sie der Besitz und Wert meines Lebens waren und unzerstörbar fortbestanden, sterngewordene Erlebnisse, die ich vergessen und doch nicht vernichten konnte, deren Reihe die Sage meines Lebens, deren Sternglanz der unzerstörbare Wert meines Daseins war. Mein Leben war mühsam, irrläufig und unglücklich gewesen, es führte zu Verzicht und Verneinung, es war bitter vom Schicksalssalz alles Menschentums, aber es war reich, stolz und reich gewesen, auch noch im Elend ein Königsleben. Mochte das Stückchen Weges bis zum Untergang vollends noch so kläglich vertan werden, der Kern dieses Lebens war edel, es hatte Gesicht und Rasse, es ging nicht um Pfennige, es ging um die Sterne.
Es ist schon wieder eine Weile her, und vieles ist seither geschehen und anders geworden, ich kann mich nur noch an weniges Einzelne aus jener Nacht erinnern, an einzelne Worte zwischen uns, an einzelne Gebärden und Taten tiefer Liebeszärtlichkeit, an sternhelle Augenblicke des Erwachens aus schwerem Schlaf der Liebesermattung. Aber jene Nacht war es, in derzum erstenmal wieder seit der Zeit meines Niedergangs mein eigenes Leben mich mit den unerbittlich strahlenden Augen anblickte, wo ich den Zufall wieder als Schicksal, das Trümmerfeld meines Daseins wieder als göttliches Fragment erkannte. Meine Seele atmete wieder, mein Auge sah wieder, und für Augenblicke ahnte ich glühend, daß ich nur die zerstreute Bilderwelt zusammenzuraffen, daß ich nur mein Harry Hallersches Steppenwolfleben als Ganzes zum Bilde zu erheben brauche, um selber in die Welt der Bilder einzugehen und unsterblich zu sein. War denn nicht dies das Ziel, nach welchem jedes Menschenleben einen Anlauf und Versuch bedeutete?
Am Morgen mußte ich Maria, nachdem sie mein Frühstück geteilt hatte, aus dem Hause schmuggeln, und es gelang. Noch am selben Tage mietete ich für sie und mich in einem nahen Stadtteil ein Zimmerchen, das nur für unsre Zusammenkünfte bestimmt war.
Meine Tanzlehrerin Hermine erschien pflichtgetreu, und ich mußte den Boston lernen. Sie war streng und unerbittlich und erließ mir keine Stunde, denn es war beschlossen, daß ich mit ihr den nächsten Maskenball besuchen werde. Sie hatte mich um Geld für ihr Kostüm gebeten, über das sie aber jede Auskunft verweigerte. Sie zu besuchen oder auch nur zu wissen, wo sie wohne, war mir noch immer verboten.
Diese Zeit vor dem Maskenball, etwa drei Wochen, war außerordentlich schön. Maria schien mir die erste wirkliche Geliebte zu sein, die ich je gehabt hatte. Immer hatte ich von den Frauen, die ich geliebt hatte, Geist und Bildung verlangt, ohne je ganz zu merken, daß auch die geistvollste und verhältnismäßig gebildetste Frau niemals dem Logos in mir Antwort gab, sondern stets ihm entgegenstand; ich brachte meine Probleme und Gedanken zu den Frauen mit, und völlig unmöglich hätte es mir geschienen, ein Mädchen länger als eine Stunde zu lieben, das kaum ein Buch gelesen hatte, kaum wußte, was Lesen ist, und einen Tschaikowsky von einem Beethoven nicht hätte unterscheiden können. Maria hatte keine Bildung, sie hatte diese Umwege und Ersatzwelten nicht nötig, ihre Probleme wuchsen alle unmittelbar aus den Sinnen. Mit den ihr gegebenen Sinnen, mit ihrer besonderen Figur, ihren Farben, ihrem Haar, ihrer Stimme, ihrer Haut, ihrem Temperament so viel Sinnen- und Liebesglück alsirgend möglich zu erringen, für jede Fähigkeit, für jede Biegung ihrer Linien, jede zarteste Modellierung ihres Körpers beim Liebenden Antwort, Verständnis und lebendiges, beglückendes Gegenspiel zu finden und hervorzuzaubern, dies war ihre Kunst und Aufgabe. Schon bei jenem ersten schüchternen Tanz mit ihr hatte ich das empfunden, hatte diesen Duft einer genialen, entzückend hochkultivierten Sinnlichkeit gewittert und war von ihr bezaubert gewesen. Gewiß auch war es kein Zufall, daß Hermine, die Allwissende, mir diese Maria zugeführt hatte. Ihr Duft und ihre ganze Signatur war sommerlich, war rosenhaft.
Ich hatte nicht das Glück, Marias einziger oder bevorzugter Geliebter zu sein, ich war einer von mehreren. Oft hatte sie keine Zeit für mich, manchmal eine
Weitere Kostenlose Bücher