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Der Steppenwolf

Der Steppenwolf

Titel: Der Steppenwolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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ganze Welt in deine schmerzlich erweiterte Seele aufnehmen müssen, um vielleicht einmal zum Ende, zur Ruhe zu kommen. Diesen Weg ist 54
    Buddha, ist jeder große Mensch gegangen, der eine wissend, der andre unbewußt, soweit ihm eben das Wagnis glückte. Jede Geburt bedeutet Trennung vom All, bedeutet Umgrenzung, Absonderung von Gott, leidvolle Neuwerdung. Rückkehr ins All, Aufhebung der leidvollen Individuation, Gottwerden bedeutet: seine Seele so erweitert haben, daß sie das All wieder zu umfassen vermag.
    Es ist hier nicht die Rede vom Menschen, den die Schule, die Nationalökonomie, die Statistik kennt, nicht vom Menschen, wie er zu Millionen auf den Straßen herumläuft und von dem nichts andres zu halten ist als vom Sand am Meer oder von den Spritzern einer Brandung: es kommt auf ein paar Millionen mehr oder weniger nicht an, sie sind Material, sonst nichts. Nein, wir sprechen hier vom Menschen im hohen Sinn, vom Ziel des langen Weges der Menschwerdung, vom königlichen Menschen, von den Unsterblichen. Das Genie ist nicht so selten, wie es uns oft scheinen will, ist freilich auch nicht so häufig, wie die Literatur und Weltgeschichten oder gar die Zeitungen meinen. Der Steppenwolf Harry, so scheint es uns, wäre Genie genug, um das Wagnis der Menschwerdung zu versuchen, statt sich bei jeder Schwierigkeit wehleidig au) seinen dummen Steppenwolf hinauszureden.
    Daß Menschen von solchen Möglichkeiten sich mit Steppenwölfen und
    «zwei Seelen, ach!» behelfen, ist ebenso verwunderlich und betrübend, wie daß sie so oft jene feige Liebe zum Bürgerlichen haben. Ein Mensch, der fähig ist, Buddha zu begreifen, ein Mensch, der eine Ahnung hat von den Himmeln und Abgründen des Menschentums, sollte nicht in einer Welt leben, in welcher common sense, Demokratie und bürgerliche Bildung herrschen. Nur aus Feigheit lebt er in ihr, und wenn seine Dimensionen ihn bedrängen, wenn die enge Bürgerstube ihm zu eng wird, dann schiebt er es dem «Wolf» in die Schuhe und will nicht wissen, daß der Wolf zuzeiten sein bestes Teil ist. Er nennt alles Wilde in sich Wolf und empfindet es als böse, als gefährlich, als Bürgerschreck —
    aber er, der doch ein Künstler zu sein und zarte Sinne zu haben glaubt, vermag nicht zu sehen, daß außer dem Wolf, hinter dem Wolf, noch viel 55
    andres in ihm lebt, daß nicht alles Wolf ist, was beißt, daß da auch noch Fuchs, Drache, Tiger, Affe und Paradiesvogel wohnen. Und daß diese ganze Welt, dieser ganze Paradiesgarten von holden und schrecklichen, großen und kleinen, starken und zarten Gestaltungen erdrückt und gefangengehalten wird von dem Wolfmärchen, ebenso wie der wahre Mensch in ihm vom Scheinmenschen, vom Burger, erdrückt und gefangengehalten wird.
    Man stelle sich einen Garten vor, mit hunderterlei Bäumen, mit tausenderlei Blumen, hunderterlei Obst, hunderterlei Kräutern. Wenn nun der Gärtner dieses Gartens keine andre botanische Unterscheidung kennt als «eßbar» und «Unkraut», dann wird er mit neun Zehnteln seines Gartens nichts anzufangen wissen, er wird die zauberhaftesten Blumen ausreißen, die edelsten Bäume abhauen oder wird sie doch hassen und scheel ansehen. So macht es der Steppenwolf mit den tausend Blumen seiner Seele. Was nicht in die Rubriken «Mensch» oder «Wolf» faßt, das sieht er gar nicht. Und was zählt er nicht alles zum «Menschen»! Alles Felge, alles Affenhafte, alles Dumme und Kleinliche, wenn es nur nicht gerade wölfisch ist, zählt er zum «Menschen», ebenso wie er alles Starke und Edle, nur weil es ihm noch nicht gelang, seiner Herr zu werden, dem Wölfischen zuschreibt.
    Wir nehmen Abschied von Harry, wir lassen ihn seinen Weg allein weitergehen. Wäre er schon bei den Unsterblichen, wäre er schon dort, wohin sein schwerer Weg zu zielen scheint, wie würde er diesem Hin und Her, diesem wilden, unentschlossnen Zickzack seiner Bahn verwundert zuschauen, wie würde er diesem Steppenwolf ermunternd, tadelnd, mitleidig, belustigt zulächeln!
    Als ich zu Ende gelesen hatte, fiel mir ein, daß ich vor einigen Wochen einmal in der Nacht ein etwas sonderbares Gedicht aufgeschrieben hatte, das ebenfalls vom Steppenwolf handelte. Ich suchte danach im Papiergestöber meines vollgestopften Schreibtisches, fand es und las:

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    Ich Steppenwolf trabe und trabe,
    Die Welt liegt voll Schnee,
    Vom Birkenbaum flügelt der Rabe,
    Aber nirgends ein Hase, nirgends ein Reh!
    In die Rehe bin ich so verliebt,
    Wenn ich doch eins fände!
    Ich nähm's

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