Der Steppenwolf
erinnerte mich an Einzelheiten aus unsern einstigen Ge sprächen, versicherte, daß er meinen Anregungen viel verdanke und oft an mich gedacht habe; selten habe er seither so angeregte und ergiebige Auseinandersetzungen mit Kollegen gehabt. Er fragte, seit wann ich in der Stadt sei (ich log: seit wenigen Tagen) und warum ich ihn nicht aufgesucht habe. Ich blickte dem artigen Mann in sein gelehrtes gutes Gesicht, fand die Szene eigentlich lächerlich, genoß aber doch wie ein verhungerter Hund den Brocken Wärme, den Schluck Liebe, den Bissen Anerkennung. Gerührt grinste der Steppenwolf Harry, im trocknen Schlunde lief ihm der Geifer zusammen, Sentimentalität bog ihm wider seinen Willen den Rücken. Ja, ich log mich also eifrig heraus, daß ich nur vorübergehend hier sei, studienhalber, und mich auch nicht recht wohl fühle, sonst hätte ich ihn natürlich einmal besucht. Und als er mich nun herzlich einlud, doch diesen Abend bei ihm zu verbringen, da nahm ich ihn dankbar an, bat ihn seine Frau zu grüßen, und dabei taten mir beim eifrigen Reden und Lächeln die Backen weh, welche dieser Anstrengungen nicht mehr gewohnt waren. Und während ich, Harry Haller, da auf der Straße stand, überrumpelt und geschmeichelt, höflich und beflissen, und dem freundlichen Mann in das kurzsichtige gute Gesicht lächelte, stand der andere Harry daneben und grinste ebenfalls, stand grinsend und dachte, was ich doch für ein eigentümlicher, verdrehter und verlogener Bruder sei, daß ich vor zwei Minuten noch gegen die ganze verfluchte Welt grimmig die Zähne gefletscht hatte und jetzt beim ersten Anruf, beim ersten harmlosen Gruß eines achtbaren Biedermanns gerührt und übereifrig ja und amen sagte und mich im Genuß von ein bißchen Wohlwollen, Achtung und Freundlichkeit wie ein Ferkel wälzte. So standen die beiden Harrys, beides außerordentlich unsympathische Figuren, dem artigen Professor gegenüber, verhöhnten einander, beobachteten einander, spuckten voreinander aus und stellten sich, wie immer in solchen Lagen, wieder einmal die Frage: ob das nun einfach menschliche Dummheit und Schwäche sei, allgemeines Menschenlos, oder ob dieser sentimentale Egoismus, diese Charakterlosigkeit, diese Unsauberkeit und Zwiespältigkeit der Gefühle bloß eine persönliche, steppenwölfische Spezialität sei. War die Schweinerei 65
allgemein menschlich, nun, dann konnte sich meine Weltverachtung mit erneuter Wucht darauf stürzen; war es nur meine persönliche Schwäche, so ergab sich daraus Anlaß zu einer Orgie der Selbstverachtung.
Über dem Streit zwischen den beiden Harrys wurde der Professor beinah vergessen; plötzlich war er mir wieder lästig, und ich eilte, ihn loszuwerden.
Lange sah ich ihm nach, wie er unter der kahlen Allee davonging, mit dem gutmütigen und etwas komischen Gang eines Idealisten, eines Gläubigen. Heftig tobte die Schlacht in meinem Innern, und während ich mechanisch die steifen Finger krümmte und wieder streckte, im Kampf mit der heimlich wühlenden Gicht, mußte ich mir gestehen, daß ich mich da hatte übertölpeln lassen, daß ich mir nun eine Einladung auf halb acht Uhr zum Abendessen auf den Hals geladen hatte samt Verpflichtung zu Höflichkeiten, wissenschaftlichem Geschwatze und Betrachtung fremden Familienglücks. Zornig ging ich nach Hause, mischte Kognak und Wasser, schluckte dazu meine Gichtpillen hinunter, legte mich auf den Diwan und versuchte zu lesen. Als es mir endlich gelungen war, eine Weile in «Sophiens Reise von Memel nach Sachsen» zu lesen, einem entzückenden Schmöker aus dem achtzehnten Jahrhundert, fiel mir plötzlich die Einladung wieder ein und daß ich nicht rasiert war und daß ich mich anziehen müsse. Weiß Gott, warum ich mir das angetan hatte! Also, Harry, steh auf, lege dein Buch weg, seife dich ein, kratze dir das Kinn blutig, zieh dich an und habe ein Wohlgefallen an den Menschen! Und während ich mich einseifte, dachte ich an das dreckige Lehmloch im Friedhof, in das man heut den Unbekannten hinuntergeseilt hatte, und an die verkniffenen Gesichter der gelangweilten Mitchristen und konnte nicht einmal darüber lachen. Dort endete, so schien mir, an jenem dreckigen Lehmloch, bei den dummen verlegenen Worten des Predigers, bei den dummen verlegenen Mienen der Trauerversammlung, bei dem trostlosen Anblick all der Kreuze und Tafeln aus Blech und Marmor, bei all den falschen Draht und Glasblumen, dort endete nicht nur der Unbekannte, dort würde nicht nur morgen oder
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