Der Steppenwolf
und zu warten gebeten, und statt ein Gebet zu sprechen oder ein wenig zu schlafen, folgte ich einem spielerischen Trieb und nahm den nächsten Gegenstand in die Hände, der sich mir anbot. Es war ein kleines gerahmtes Bild, das auf dem runden Tisch seinen Standort hatte, durch eine steife Kartonklappe zum Schrägstehen gezwungen. Es war eine Radierung und stellte den Dichter Goethe dar, einen charaktervollen, genial frisierten Greis mit schön modelliertem Gesicht, in welchem weder das berühmte Feuerauge fehlte noch der Zug von leicht hofmännisch übertünchter Einsamkeit und Tragik, auf 68
welche der Künstler ganz besondere Mühe verwandt hatte. Es war ihm gelungen, diesem dämonischen Alten, seiner Tiefe unbeschadet, einen etwas professoralen oder auch schauspielerischen Zug von Beherrschtheit und Biederkeit mitzugeben und ihn, alles in allem, zu einem wahrhaft schönen alten Herrn zu gestalten, welcher jedem Bürgerhause zum Schmuck gereichen konnte. Vermutlich war dieses Bild nicht dümmer als alle Bilder dieser Art, alle diese von fleißigen Kunsthandwerkern hergestellten holden Heilande, Apostel, Heroen, Geisteshelden und Staatsmänner, vielleicht wirkte es nur durch eine gewisse virtuose Gekonntheit so aufreizend auf mich; sei dem wie ihm wolle, auf jeden Fall schrie mir, der ich schon hinlänglich gereizt und geladen war, diese eitle und selbstgefällige Darstellung des alten Goethe sogleich als ein fataler Mißklang entgegen und zeigte mir, daß ich hier nicht am richtigen Orte sei. Hier waren schön stilisierte Altmeister und nationale Größen zu Hause, keine Steppenwölfe.
Wäre jetzt der Hausherr eingetreten, so wäre es mir vielleicht geglückt, unter annehmbaren Vorwänden meinen Rückzug auszuführen. Es kam jedoch seine Frau herein, und ich ergab mich ins Geschick, obwohl ich Unheil ahnte. Wir begrüßten uns, und dem ersten Mißklang folgten lauter neue. Die Frau beglückwünschte mich zu meinem guten Aussehen, während mi r nur allzu bewußt war, wie sehr ich in den Jahren seit unsrer letzten Begegnung gealtert war; schon bei ihrem Händedruck hatte der Schmerz in den Gichtfingern mich fatal daran erinnert. Ja, und dann fragte sie, wie es denn meiner lieben Frau gehe, und ich mußte ihr sagen, daß meine Frau mich verlassen habe und unsre Ehe geschieden sei. Wir waren froh, als der Professor eintrat. Auch er begrüßte mich herzlich, und die Schiefheit und Komik der Situation fand alsbald den denkbar hübschesten Ausdruck. Er hielt eine Zeitung in Händen, das Blatt, auf das er abonniert war, eine Zeitung der Militaristen und Kriegshetzepartei, und nachdem er mir die Hand gegeben hatte, deutete er auf das Blatt und erzählte, darin stehe etwas über einen Namensvetter von mir, einen Publizisten Haller, der ein übler Kerl und vaterlandsloser Geselle sein müsse, er habe sich über den Kaiser lustig gemacht und sich zu der Ansicht bekannt, daß sein Vaterland am Entstehen des Krieges um nichts minder schuldig sei als die feindlichen Länder. Was das für ein Kerl sein müsse! Na, hier kriege der Bursche es gesagt, die Redaktion habe 69
diesen Schädling recht schneidig erledigt und an den Pranger gestellt.
Wir gingen jedoch zu anderem über, als er sah, daß dies Thema mich nicht interessiere, und die beiden dachten wirklich nicht von ferne an die Möglichkeit, daß jenes Scheusal vor ihnen sitzen könne, und doch war es so, das Scheusal war ich selbst. Na, wozu Lärm machen und die Leute beunruhigen! Ich lachte in mich hinein, gab aber jetzt die Hoffnung verloren, an diesem Abend noch etwas Angenehmes zu erleben. Ich habe den Augenblick deutlich in Erinnerung. In diesem Augenblick nämlich, während der Professor vom Vaterlandsverräter Haller sprach, verdichtete sich in mir das schlimme Gefühl von Depression und Verzweiflung, das sich seit der Begräbnisszene in mir angehäuft und immer verstärkt hatte, zu einem wüsten Druck, zu einer körperlich (im Unterleib) fühlbaren Not, einem würgend angstvollen Schicksalsgefühl. Es lag etwas gegen mich auf der Lauer, fühlte ich, es beschlich mich von hinten eine Gefahr. Zum Glück kam jetzt die Meldung, daß das Essen bereitstelle. Wir gingen ins Speisezimmer, und während ich mich bemühte, immer wieder irgend etwas Harmloses zu sagen oder zu fragen, aß ich mehr, als ich gewohnt war, und fühlte mich von Augenblick zu Augenblick jämmerlicher. Mein Gott, dachte ich beständig, warum strengen wir uns denn so an? Deutlich fühlte ich, daß
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