Der Steppenwolf
hatte tanzen gelernt, hatte magische Theater besucht, er hatte Mozart lachen gehört, er hatte vor Tänzen, vor Frauen, vor Messern keine Angst mehr. Auch der mäßig Begabte, wenn er ein paar Jahrhunderte durchrannt hat, wird reif. Lange sah ich Harry im Spiegel an: noch kannte ich ihn wohl, noch immer glich er ein ganz klein wenig dem Harry von fünfzehn Jahren, der an einem Märzsonntag in den Felsen der Rosa begegnet war und seinen Konfirmandenhut vor ihr gezogen hatte. Und doch war er seither einige hundert Jährchen älter geworden, hatte Musik und Philosophie getrieben und satt gekriegt, hatte im «Stahlhelm» Elsässer gesoffen und mit biederen Gelehrten über Krischna disputiert, hatte Erika und Maria geliebt, war Herminens Freund geworden, hatte Automobile abgeschossen und mit der glatten Chinesin geschlafen, hatte Goethe und Mozart angetroffen und verschiedene Löcher in das Netz der Zeit und der Scheinwirklichkeit gerissen, in dem er noch gefangen war. Hatte er auch seine hübschen Schachfiguren wieder verloren, so hatte er doch ein braves Messer in der Tasche. Vorwärts, alter Harry, alter müder Kerl!
Pfui Teufel, wie schmeckte das Leben bitter! Ich spuckte den Harry im Spiegel an, ich trat mit dem Fuß gegen ihn und trat ihn in Scherben. Langsam ging ich durch den hallenden Gang, aufmerksam betrachtete ich die Türen, die soviel Hübsches versprochen hatten: an keiner mehr stand eine Inschrift. Langsam 182
schritt ich alle die hundert Türen des magischen Theaters ab. War ich nicht heute an einem Maskenball gewesen? Hundert Jahre waren seither vergangen. Bald wird es keine Jahre mehr geben. Etwas war noch zu tun, Hermine wartete noch.
Eine sonderbare Hochzeit würde das sein. In einer trüben Welle schwamm ich dahin, trüb gezogen, Sklave, Steppenwolf. Pfui Teufel!
An der letzten Tür blieb ich stehen. Dorthin hatte die trübe Welle mich gezogen. 0 Rosa, o ferne Jugend, o Goethe und Mozart!
Ich öffnete. Was ich hinter der Türe fand, war ein einfaches und schönes Bild.
Auf Teppichen am Boden fand ich zwei nackte Menschen liegen, die schöne Hermine und den schönen Pablo, Seite an Seite, tief schlafend, tief erschöpft vom Liebesspiel, das so unersättlich scheint und doch so schnell satt macht.
Schöne, schöne Menschen, herrliche Bilder, wundervolle Körper. Unter Herminens linker Brust war ein frisches rundes Mal, dunkel unterlaufen, ein Liebesbiß von Pablos schönen schimmernden Zähnen. Dort, wo das Mal war, stieß ich mein Messer hinein, so lang die Klinge war. Blut lief über Herminens weiße zarte Haut. Dies Blut hätte ich weggeküßt, wenn alles etwas anders gewesen, etwas anders gegangen wäre. Nun tat ich es nicht; ich sah nur zu, wie das Blut lief, und sah ihre Augen sich eine kleine Weile öffnen, schmerzvoll, tief verwundert. «Warum ist sie verwundert?» dachte ich. Dann dachte ich daran, daß ich ihr die Augen zudrücken müsse. Aber sie schlossen sich von selbst wieder.
Es war getan. Sie drehte sich nur ein wenig auf die Seite, von der Achselhöhle zur Brust sah ich einen feinen zarten Schatten spielen, der wollte mich an irgend etwas erinnern. Vergessen! Dann lag sie still.
Lange sah ich sie an. Endlich schauerte ich wie erwachend auf und wollte gehen. Da sah ich Pablo sich dehnen, sah ihn die Augen öffnen und die Glieder recken, sah ihn sich über die schöne Tote beugen und lächeln. Nie wird dieser Kerl ernsthaft werden, dachte ich, alles bringt ihn zum Lächeln. Behutsam schlug Pablo eine Ecke des Teppichs um und deckte Hermine zu bis zur Brust, daß die Wunde nicht mehr zu sehen war, und ging dann unhörbar aus der Loge. Wo ging er hin? Ließen alle mich allein? Ich blieb, allein mit der halbverhüllten Toten, die ich liebte und beneidete. Über ihre bleiche Stirn hing die Knabenlocke herab, der Mund strahlte rot aus dem ganz erblaßten Gesicht und war ein wenig geöffnet, 183
ihr Haar duftete zart und ließ das kleine, reichgeformte Ohr halb durchschimmern.
Nun war ihr Wunsch erfüllt. Noch eh sie ganz mein geworden war, hatte ich meine Geliebte getötet. Ich hatte das Unausdenkliche getan, und nun kniete ich und starrte und wußte nicht, was diese Tat bedeute, wußte nicht einmal, ob sie gut und richtig gewesen sei oder das Gegenteil. Was würde der kluge Schachspieler, was würde Pablo zu ihr sagen? Ich wußte nichts, ich konnte nicht denken. Immer röter glühte der gemalte Mund aus dem erlöschenden Gesicht. So war mein ganzes Leben gewesen, so war me in
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